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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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nicht töten. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht ehebrechen.
    Der Konfirmationstag ist strahlend. Wir reiten zur Kirche. Ich sitze im Damensattel und habe das Gefühl, viele Jahre älter geworden zu sein. Als ich dort in der Kirche stehe, verliere ich kein einziges Mal den Faden. Zum ersten Mal habe icheine Tracht an, dieselbe, in der auch Ninna und Gauja konfirmiert wurden. Sie ist so weit, dass ich fast darin verschwinde. Der Katechismus sprudelt nur so aus mir heraus. Ich könnte ihn rückwärts aufsagen, genauso wie die Psalmen. Je länger ich spreche, desto kräftiger wird meine Stimme und desto besser fülle ich die Tracht aus. Auch Þórarinn macht seine Sache gut, aber Þórgunnur gerät immer wieder ins Stocken. Einige der anderen Kinder auch. Da fange ich plötzlich mitten in der Kirche an zu grinsen. Merke, wie sich in mir etwas freut. Da fällt mir Gott ein, der jedes kleinste Detail sieht, ich werde rot und senke den Blick. Lasse meine Augen aus dem Winkel schnell über die Kirchengäste wandern. Kann Magga nicht entdecken. Sehe überall nur ernst dreinblickende Frauen mit schwarzen Schultertüchern. Ob eine von ihnen Magnea vom Bali-Hof ist?
    Wieder zu Hause gibt es Kaffee und Pfannkuchen für alle. Sogar die alte Kristbjörg erhebt sich aus den Federn. Sie strahlt, sagt kein einziges Schimpfwort. Schwester Ninna sieht schick aus, ist gekämmt und geschniegelt. Ich befürchte, dass dem Sommerknecht vor lauter Entzücken die Pfannkuchen im Hals stecken bleiben. Jetzt küsst Gauja Þórarinn auf beide Wangen. Als hätte sie ihn erst jetzt plötzlich erblickt. Þórarinn wird tiefrot, und seine Ohren glühen.
    An diesem sonnigen Sommertag spielt Papa Akkordeon, und während die Sonne hinter dem Abendgipfel verschwindet, wird im Gesellschaftszimmer gesungen. Þórarinn und ich gehören jetzt zur Christengemeinschaft, und das Leben fängt gerade erst so richtig an.
    Das Lächeln und Strahlen, das den kleinen Einar umgibt, folgt mir, wohin ich auch gehe. Selbst wenn er nicht in der Nähe ist, spüre ich seine kräftigen Händchen an meinem Hals. Er möchte uns beiden ein Schloss bauen und ist so überzeugend, dass ich mich mitreißen lasse. Er wird König und ich Königin. Da spielen diese neun Jahre zwischen uns keine Rolle.
    Ich denke oft an Magga, kann den Spott der Kinder beim Pfarrer nicht vergessen. Sehe sie vor mir in einem Kreis auf dem Hofplatz. Höre ihre Stimmen und das gemeine Lachen. Halldóra ist nicht geschwätzig. Ich setze mich zu ihr aufs Bett, schlinge meine Arme um ihre Schultern und bitte sie, mir zu helfen, das Weltbild zusammenzufügen. Sie stopft wie besessen, schweigt. Dann sieht sie mich lange an.
    «Engelchen. Du bist so groß geworden, und ich weiß, dass ich dir vertrauen kann», sagt sie schließlich. So ernst habe ich Halldóra noch nie gesehen. Sie sucht Satz für Satz. Langsam und vorsichtig.
    «Papa, du hast doch nie einem Geächteten die Kehle durchgebissen, oder?», frage ich, als ich ihm bei der Heuernte etwas zur Stärkung bringe.
    «Ja, was denkst denn du?» Er ist so stolz, dass er fast abhebt.
    Ich antworte nicht, sehe ihm beim Lachen zu.
    «Hat köstlich geschmeckt, der Kerl!», fügt er hinzu, lacht und bekommt Schluckauf.
    Ich sehe ihn immer noch schweigend an. Habe ich vielleicht gehofft, dass er verneint? Dann ist es, als würde er bemerken, wie ernst ich bin, denn plötzlich fragt er scharf: «Von wem hast du das?»
    Ich tue, als würde ich nichts hören. Was Halldóra mir gesagt hat, geht ihn nichts an.
    «Was glaubst du eigentlich, wie viele Mädchen gerne einen so starken Mann zum Vater hätten?», fragt er. «Stattdessen müssen sie sich mit Heuhosen und Schwächlingen begnügen.» Er greift nach dem Tabakhorn und nimmt eine kräftige Prise Schnupftabak.
    Ich will nicht über die Geächteten sprechen. Etwas ganz anderes brennt mir unter den Nägeln, aber als ich danach fragen müsste, verlässt mich der Mut.
    Halldóra wusste noch mehr. Magga hat ein Mädchen bekommen, aber diesmal lief es nicht so gut wie bei Einars Geburt. Papa gab zu, dass er der Vater des Mädchens war, das auf den Namen Valdís getauft wurde und nach einem Monat starb. Daraufhin soll Magga nach Ostisland gegangen sein, für immer gegangen. Einar bleibt bei uns. Immer noch weiß ich nicht, wer Magnea ist, und hoffentlich wird ihr Junge nicht hierher geschickt.
    Als ich so dastehe und an Magga denke, weht ihr Duft zu mir. Er ist stark und erfüllt meine Nase. Dann sehe ich Papa an

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