Im Schatten des Vogels
und würde am liebsten schreien: Was denkst du dir eigentlich, wenn du in eine Kirche gehst, auf deiner Bank sitzt und lauthals singst? Hast du die Gebote vergessen? Und wie kannst du das bloß Mutter antun?
Doch ich bringe kein Wort heraus. Der Kloß verstopft meinen Hals. Maggas Duft verschwindet. Ich suche ohne Erfolg die Wolken über dem Gletscher ab, finde weder Pálmar noch Valdís.
«Diese Geächtetengeschichte glaube ich nicht», bringe ich endlich über die Lippen. Versuche, ihn mit festem Blick anzusehen und auch nicht zu zögern, als ich hinzufüge: «Das sagst du nur, um dich zu schmücken.»
«Der Teufel hat mich angegriffen. Ich musste mein Leben retten», antwortet er und baut sich auf.
Papa ist klein und stämmig. Er hat blondes Haar und einen Vollbart. Jetzt röten sich seine Wangen. Dann sieht er jünger aus. Seine Hände sind kräftig, und ich weiß, wie warm sie sein können.
«Das war ein Spiel um Leben und Tod, Engelchen. Wir waren auf dem Weg über einen Gletscher, und es gab ein Unwetter. Sie waren zu dritt, wir nur zu zweit», sagt er und sieht mit entrücktem Blick in Richtung Berge.
«Aber das ist Mord», schreie ich und merke, dass meine Stimme zittert. «Das fünfte Gebot!»
«Nicht, wenn es Selbstverteidigung ist», wirft er schnell ein. «Diesen Abschaum des Leibhaftigen hätte ich noch fester in die Mangel nehmen sollen!»
Während er flucht, sehe ich Mutter vor mir, gewissenhaft, mit groben Gesichtszügen, und ein Stückchen größer als er. In dem Moment wird mir klar, wie unähnlich die beiden einander sind.
«Vielleicht frage ich mal Mutter nach dieser Geächtetengeschichte», sage ich mit ekelhaftem Beigeschmack im Mund.
«Das kannst du dir sparen, Engelchen, das war lange vor ihrer Zeit. Da war ich noch jung und mutig.» Dann streckt er sich, gibt mir den leeren Krug, nimmt die Sense und legt wie mit doppelter Kraft los.
Das war lange vor ihrer Zeit, hallt es in meinem Kopf nach, als ich dort stehe und ihn im Heu schuften sehe. Wann war ihre Zeit?
Ich schaue hoch zum Berg, lasse meine Augen über die Felsenkette bis zum Gletscher und wieder zurück wandern, alswürde ich damit rechnen, Geächtete zu Gesicht zu bekommen. Dann drehe ich mich um, mache mich auf den Heimweg und schaue hinaus zum Sander.
«Engel», höre ich ihn von der Wiese hinter mir herrufen. «Was ist denn heute mit dir los?»
Antworte nicht, gehe schneller.
«Ich würde vielleicht nicht direkt sagen, dass ich ihm die Kehle durchgebissen habe, ein bisschen geknabbert habe ich an ihm. Und die Lumpen in die Flucht geschlagen!», ruft er eifrig.
Als wären mir diese Geächteten nicht verdammt egal! Die Wut brodelt in mir, und ich gehe noch schneller. Warum kann ich nicht nach dem fragen, was mir so unter den Nägeln brennt?
Halldóra hat noch mehr gesagt. Als junger Mann kam Papa aus dem Westbezirk. Es hieß, eine Elfenfrau habe sich in ihn verliebt. Er schloss sich ihr an, verschwand spurlos und blieb eine Zeit lang bei ihr. Man suchte nach ihm, schließlich wurde er abgeschrieben. Doch Papa wollte nicht für immer ins Elfenreich ziehen. Eines Tages tauchte er wieder auf. Da erlegte ihm die Elfenfrau einen Fluch auf, der dafür sorgte, dass er niemals Frieden bei einer Frau finden würde. Mit diesem Fluch zog er in den Ostbezirk. Je länger ich über diese Geschichte nachdenke, desto verständlicher wird mir Papas Verhalten.
Am liebsten würde ich ihn schlagen, aber ich weiß trotz allem, dass ich das nicht tun werde. Er ist wieder da, der Kloß in meinem Hals, und ich laufe nach Hause, ohne zurückzublicken.
II
Mein Bruder Ingi ist fort. Ich möchte nichts anderes glauben, als dass er wiederkommen wird. Einige Wintersaisons lang ist er von Grindavík aus zum Fischen aufs Meer gefahren. Dann ist er irgendwann nicht mehr zurückgekehrt. Aus Reykjavík hat er geschrieben. Gesagt, dass er auf einem Schiff angeheuert habe, das zu anderen Ländern segle, und er könne nicht sagen, wann er nach Hause komme. Papa war niedergeschlagen, verdrückte sich. Mutter machte einfach weiter. Viel später sagte sie, dass sie gewusst habe, dass das passieren würde.
Alle hatten geglaubt, dass Ingi einmal den Hof übernehmen würde. Mag sein, dass darüber nie laut gesprochen wurde, dass es einfach nur in der Luft lag. Mag sein, dass das etwas war, das alle wollten, bis auf Ingi. Zweimal hat er geschrieben, einen Brief und eine Karte, einmal aus Rotterdam in Holland, einmal aus Grimsby. Ich träume oft von ihm und
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