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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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meinen Kleidern. Rufe nach Fleisch, will nicht diesen verdammten Fraß.
    Vigfús sagt, dass ich herauskäme, wenn ich ruhig und willig sei. Ich gebe mich mit dem Fisch zufrieden, schlinge ihn herunter und würge …

IX
    «Wird es schon Frühling, Þorgerður, Liebes?»
    Wir sitzen gemeinsam in der Wohnstube, und ich werde gerade fertig mit dem Kämmen und Zöpfeflechten.
    «Das hat sie dir schon mehrfach gesagt», antwortet Jón kurz angebunden. «Also hör auf zu fragen.»
    «Mutter darf fragen, was sie will», sagt Þorgerður sofort.
    «Halt den Mund», schreit Jón und stürzt zur Tür.
    «Halt selbst den Mund!», ruft Þorgerður hinter ihm her.
    «Meine Güte, was ist mein Jón schlecht gelaunt! Hoffentlich führt er sich nicht so auf, wenn Papa kommt. Sie sind schließlich Namensvettern.» Zuletzt wickle ich mir die Zöpfe um den Kopf. Sie werden langsam dünner.
    «Er ist immer wütend und hat auch keine Freunde», antwortet Þorgerður. Jetzt bemerke ich, dass sie unheimlich gewachsen ist. Durch das Kleid, das sie trägt, zeichnen sich schon ihre Knochen ab.
    «Komm her, mein Mädchen, und lass dich mal ansehen.» Sie steht vor mir, dünn und schlaksig. «Du bist ja richtig in die Höhe geschossen! Müssen wir nicht mal Stoff für dein Konfirmationskleid kaufen gehen?»
    «Mutter», sagt sie lachend. «Erst mal muss mein Bruder Jón konfirmiert werden!»
    Ich würde gerne fragen, wann es so weit ist, traue mich aber nicht. Lache einfach mit und sage, dass ich einen Witz gemachthabe. Doch in Wahrheit weiß ich nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Ich habe das Gefühl, jahrelang eingeschlossen gewesen zu sein.
    Wir gehen gemeinsam zur Kommode und sehen nach, ob ich Stoff habe, aus dem ich etwas nähen kann.
    «Was wirst du nähen, Mutter?», fragt Þorgerður, und ihre Vorfreude ist nicht zu übersehen. Ich antworte nicht, sehe die Ballen durch und stelle fest, dass ich noch nichts für meinen Bruder Einar genäht habe. Was für eine Schlamperei!
    «Den finde ich hübsch», sagt sie und streicht über einen hellen Ballen.
    «Na schön!» Ich wickle den Ballen auf. «Dann sollst du ein Kleid bekommen, falls der Stoff ausreicht.»
    Þorgerður tanzt durch die Wohnstube. Sie weiß haargenau, wie das Kleid aussehen soll, und beschreibt es mir mit vielen Worten. Ich lasse mich von ihrer Ausgelassenheit anstecken. Dann packt mich die Furcht. Kann ich noch nähen? Habe ich nicht schon alles vergessen? Meine Hände zittern.
    «Wo sind meine Stoffscheren?», frage ich. Þorgerður sucht überall und findet sie schließlich in der Küchenschublade. Sie wurden für etwas anderes benutzt. Sie haben all ihre Schärfe verloren. Zur Hölle noch mal! Das sind meine Scheren, und die sind nur fürs Schneidern.
    «Aber du darfst die Scheren nicht haben», sagt sie und versucht, sie mir wegzunehmen. «Vater sagt, dass du dir damit etwas antun könntest.»
    «Vater sagt, Vater sagt … Wie soll ich ein Kleid zuschneiden, wenn ich keine Schere habe? Brüh deiner Mutter jetzt einen Schluck Kaffee auf, und mach ihn stark», sage ich bestimmt und breite den Stoff auf dem Tisch aus.
    «Versprichst du, lieb zu sein?», fragt sie und zögert unruhig. Ich lächle und nicke. Da springt sie los und singt in der Küche aus voller Kehle.
    Es gelingt mir, das Kleid zuzuschneiden und zusammenzustecken. Und ich bin sogar recht zufrieden mit mir. Þorgerður ist wie mein Schatten, will, dass ich ununterbrochen weiternähe, kann ihre Freude nicht zurückhalten.
    Das Brummen der Nähmaschine ist das Einzige, was zu hören ist, Vigfús ist aus dem Stall zurück und liest. Er hat ein Auge auf die Scheren. Anna und Þorgerður waschen in der Küche ab. Auf den ersten flüchtigen Blick ist das eine normale Familie. Aber oben im ersten Stock ist ein kleiner Verschlag, und dort muss ich hinein, wenn ich einen Anfall habe. Das weiß ich. Gerate beim Gedanken daran außer Atem, und die Hände beginnen zu zittern.
    Ich finde es furchtbar, den Verschlag zu sehen. Er ist so präsent, wenn ich im Bett liege und versuche, mich auszuruhen. Ich bitte Vigfús, ihn zu entfernen. Vielleicht rüber ins andere Zimmer?
    «Nein, dort schlafen die Kinder, da ist kein Platz», sagt er.
    «Kann er dann nicht einfach nach draußen?», flüstere ich atemlos. «Ich glaube, dass es mir besser geht!»
    Doch Vigfús schüttelt entschieden den Kopf und legt eine Decke über den Käfig, damit ich ihn nicht sehen muss. Das finde ich noch schlimmer. Den Gedanken an das, was unter

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