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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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der Decke ist, finde ich unerträglich. Er bringt mich dazu, wild um mich zu schlagen und zu schreien. Da sieht Vigfús mich mit prüfendem Blick an. Jetzt muss ich vorsichtig sein.
    «Wo ist Katrín?», frage ich Þorgerður. Wie so oft sind wir allein in der Wohnstube, und ich nähe das Kleid.
    «Mutter, du fragst immer dasselbe», sagt sie gereizt. «Jetzt versuch, dich zu erinnern, dass sie nach Reykjavík gegangen ist.»
    «Na schön, ist sie auf der Mädchenschule? Hoffentlich nicht unter der verfluchten Dachschräge.»
    «Nein, sie ist bei Tante Gunnhildur und arbeitet in irgendeinem Laden.»
    «Dein Vater war zu geizig, sie auf die Schule zu schicken.»
    «Sie wollte dort nicht hin. Sie möchte auf die Lehrerschule. Spart Geld für den Schulbesuch.»
    «Papa bezahlt das für sie, wenn ich ihn bitte», sage ich, schweige aber, als ich Þorgerðurs Gesicht sehe.
    «Ach, versuch doch, dich auch daran zu erinnern, dass Großvater tot ist», stöhnt sie.
    Ich würde so gerne mit Jón sprechen. Es scheint, als meide er mich. Wenn er sich im Haus aufhält, ist er gereizt, schlingt das Essen herunter und stürmt wieder nach draußen.
    All die anderen Kinder wollten Geschichten hören. Wenn ich versuche, Jón von seinem Namensvetter und Großvater zu erzählen, wimmelt er mich ab. Will nicht mit mir reden. Und wenn ich trotzdem weiterrede, sagt er, dass ich den Mund halten solle. Das verletzt mich zutiefst. Wie kann er seiner Mutter den Mund verbieten?
    Neulich hörte Vigfús Jón so mit mir reden und sagte ihm, dass er nicht so frech sein solle. Ich war Vigfús dankbar dafür, dass er mich verteidigt hatte, bedauerte Jón aber noch mehr. Früher war er mal anders – glaube ich zumindest. Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern, wie die Dinge waren. Als ichÞorgerður fragte, ob sie wisse, warum Jón immer so wütend ist, antwortete sie bloß: «Die Kinder in der Schule sind böse zu uns.»
    «Weshalb sind sie das?»
    «Das sollst du doch nicht fragen, Mütterchen.»
    «Ich muss ja wohl wissen, weshalb es meinen Kindern schlecht geht», sagte ich und schlug weiter den Kleidersaum ein. Das mache ich per Hand. So wird der Saum viel schöner.
    «Ich höre so gut wie nie auf die Kinder und werde meist in Frieden gelassen. Und ich habe auch eine Freundin. Aber Jón ist immer allein und regt sich schnell auf. Manchmal endet das in Schlägereien.»
    «Und warum schlägt sich mein Jón mit den Blagen?»
    «Es sind bloß die Jungs, die sich schlagen. Sie sagen, dass du geisteskrank bist, und das darf Jón nicht hören», antwortet sie. «Sie sagen viele ganz hässliche Dinge.»
    Damit hatte ich schon fast gerechnet, und jetzt hat Þorgerður es ausgesprochen. Ich möchte nicht nachfragen, was genau all diese hässlichen Dinge sind, schneide das Garn ab und bitte sie, das Kleid anzuprobieren. Sie schwebt durch die Wohnstube, kann es nicht abwarten, das Kleid tragen zu dürfen. Wir vereinbaren, dass sie es an Pfingsten tragen wird. Da werden wir in die Kirche gehen.
    Dann gehen wir noch einmal zur Kommodenschublade. Diesmal suche ich nach etwas für Jón. Ich möchte ihm eine Hose und ein Hemd nähen. Vielleicht auch eine Jacke. Maß an ihm nehmen will ich aber trotzdem nicht. Traue mir den Umgang mit ihm nicht zu, wenn er so wütend ist, daher nehme ich eine alte Hose als Vorlage und vergrößere den Schnitt. Hoffentlich wird er die Kleider anziehen – und hoffentlich sind sie fertig, bevor Vigfús mich das nächste Mal einsperrt.Und ich beginne zu zittern. Nein, so darf ich nicht denken. Hole tief und ruhig Atem.
    Die Kleider für meinen Bruder Einar müssen weiter warten. Jón ist wichtiger.
    Beim Nähen liest Þorgerður mir vor. Am schönsten finde ich es, Gedichten oder Romanen zu lauschen, aber sie liest auch die Nachrichten aus den Zeitungen. Auf der neuesten Zeitung stand April 1932. Dann habe ich in zwei Jahren einen runden Geburtstag. Dass es mir ab jetzt bloß besser geht.
    Þorgerður liest laut und deutlich. Ich sage ihr, wie gut sie das mache, und sie errötet vor Freude.
    «Hat dir das bisher noch nie jemand gesagt?», frage ich, doch sie schüttelt nur den Kopf.
    «Der Lehrer in der Schule sollte das tun.»
    «Ich bin nicht sicher, ob ich dort auch so gut lese.»
    «Wieso nicht?»
    «Ach, es ist mir unangenehm, vor den Kindern zu lesen, und dann beeile ich mich halt», sagt sie. «Das ist kein bisschen schön.»
    «Nun steh auf und lies Jónas’ Gedicht über das Biest», sage ich und lächle. «Nicht

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