Im Schatten des Vogels
nicht.»
Dann bittet er mich, kurz zu warten. Geht hinunter und kommt mit einem Teller zurück, randvoll mit Fleisch und Kartoffeln. Wir lachen und weinen abwechselnd, während er mich füttert. Das Fleisch zergeht auf der Zunge, und ich komme zu Kräften. Glaube, dass ich wieder auf die Beine komme, wenn man mir täglich Fleisch gibt. Das sage ich Ingi, der nicht antwortet.
«Hast denn du selbst auch schon einen Bissen gegessen?», frage ich.
Er nickt.
«Ich muss zu Papa. Er wird Stefán die Schule finanzieren. Ich glaube nicht daran, dass dein Vater bezahlt.»
«Mach dir keine Sorgen! Stefán ist längst in Norwegen. Pétur Jakob hat sich seiner angenommen.»
«Na schön, auf die Beine kommen muss ich trotzdem … Du weißt, dass ich keine Magd haben will.»
«Nein, Mutter, du musst dich ausruhen», sagt er und geht mit dem leeren Teller, dreht sich aber noch einmal um und ruft: «Und jetzt hole ich Kaffee, werte Madam!»
Stehe auf und suche meine Schuhe. Mit steifem Körper klaube ich ein paar Klamotten zusammen und begegne Ingi auf der Treppe.
«Marsch ins Bett», sagt er bestimmt. «Du musst noch Kaffee trinken.»
«Schon, ich habe bloß keine Zeit. Es gibt so vieles, das ich noch nicht erledigt habe.»
«Nicht heute, Mutter. Beeil dich nun, bevor der Kaffee kalt wird.»
Ich gehe ins Bett und trinke.
«Furchtbare Pferdepisse, dieser Kaffee. Warum hat Katrín ihn nicht aufgegossen?»
«Machst du dich über meinen Kaffee lustig?» Ingi grinst schelmisch. «Katrín ist in Reykjavík, ist mit dem Küstenschiff gefahren.»
Reykjavík! Wäre ich doch mit ihr gefahren. Schließe die Augen und träume vor mich hin. Stoffläden, Kaffeehaus, Theater, Bertel und Maria …
Prinzessin Anna taucht an meinem Bett auf, ganz verheult. «Was ist los, mein Mädchen?» Ich strecke meine Hand nach ihr aus und sie zieht die Nase hoch, während sie flüstert: «Soll ich dich kämmen, Mutter?»
«Du meine Güte, bin ich ungekämmt?»
Sitze im Bett und trinke Kaffee, während Anna mein Haar kämmt. Gucke auf meine Hände, geschwollen und zerkratzt. Wie sehe ich bloß aus? Dann dämmert es mir. Der Stall! Jetzt bemerke ich auch, dass der Lärm nicht in meinem Kopf ist. Er kommt von draußen. Ich werfe den Kindern einen scharfen Blick zu: «Was treibt euer Vater da? Baut er hier im Obergeschoss?»
Anna kämmt wie verbissen mein Haar und antwortet nicht.
«Kann er diesen Krach nicht sein lassen, der Mann? Das ist unerträglich.»
«Er ist bald fertig», antwortet Ingi.
«Vigfús! Kannst du diesen Höllenkrach nicht sein lassen?», rufe ich mit scharfem Ton.
Keine Antwort.
Sehe nichts vor Dunkelheit, spüre sie aber um mich herum. Schlage mit Fäusten, stoße überall an. Ich strample, setze mich auf, kann aber nicht stehen. Komme nirgendwohin. Schreie mich heiser. Endlich kommt Papa und bittet mich, ruhig zu sein. Er wird bei mir bleiben. Immer. Mutter und Halldóra auch. Da lege ich mich hin, decke mich zu und dämmere weg.
Schrecke auf, sehe nichts in der Dunkelheit. Erinnere mich vage an Widerstand. Ich wollte nicht brav mitkommen, gab nicht nach. Kämpfte, biss und schlug, doch er war stärker. Ich rief die Kinder, bat sie, mir zu helfen. Schrie nach Ingi, doch erkam nicht. Dann hatte Vigfús mich auf den Boden gezwungen, in den Verschlag gesteckt und die Klappe zugeknallt. Hat mich eingeschlossen. Ich döse in der Dunkelheit, habe keine Kraft mehr zu rufen, glaube, dass ich sterbe.
Wache auf, als es hell geworden ist. Es ist ganz still im Haus. Ich schaue nach oben und zu beiden Seiten. Gucke zwischen den Brettern hindurch. Auf einen Ort, den ich kenne – und auch wieder nicht. Eine Gefangene in einem Verschlag in ihrem eigenen Schlafzimmer.
Da werde ich von Furcht ergriffen. Ich erinnere mich an die Platzangst unter der Dachschräge in der Mädchenschule. Erinnere mich an den Lagerraum daheim, die fensterlose Hölle. Wagte mich nicht hinein. Musste immer wissen, dass ich rauskam. Wie kann Vigfús es wagen, mich einzusperren? Ich haue und schlage um mich, schreie so laut ich kann, komme aber nicht hinaus, so sehr ich es auch versuche. Werfe mich hin und ziehe die Decke über den Kopf.
Schrecke auf und dämmere wieder weg, die Stimme nur noch ein Flüstern. Es wird nicht mehr richtig hell.
«Vigfús, mir ist kalt. Hörst du mich nicht? Komm sofort her! Mein Rücken tut weh. Und die Füße. Du kannst mich nicht einsperren!»
Ich möchte aufstehen. Mich bewegen. Hinunter in die Wohnstube gehen, Orgel
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