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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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dem entstellten Gesicht erblickte. Ich ergriff seine Rechte und drückte sie. Auch er nannte mich Bruder und wollte etwas hinzufügen, aber ein heftiger Krampf begann seinen Leib zu schütteln. In den vergangenen Monaten war ich oft genug – viel zu oft! – Zeuge des Sterbens gewesen und wußte genau, daß nun Quasimodo an der Reihe war.
    Noch einmal öffnete er seine schwärzlichen Lippen, sah mich mit trübem Auge an und flüsterte: »Bringt mich … Esmeralda …«
    Ein letzter Krampf durchzuckte seinen Leib, sein Kopf fiel zur Seite auf meine Brust. Ich hielt einen Toten in den Armen.
    Jede Traurigkeit, jeder Hass, ja sogar jede Hässlichkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. Im Tod wirkte es friedlich und glücklich wie nie zuvor. Er war in den Armen seines Bruders gestorben, den Namen der Geliebten auf den Lippen und ihr Bild im Herzen. Das Sterben hatte es besser mit ihm gemeint als das Leben. Mit sanftem Druck schloß ich das kleine Auge und sprach ein lautloses Gebet für die ge-quälte Seele meines Bruders.
    Unter uns nahm das zerstörerische Höllenwerk seinen Fortgang.
    Dumpf schallten unterirdische Explosionen zu uns herauf, und jedes Mal erschütterte ein Beben das Erdreich. Die Kraft des Sonnensteins war zu kurz freigesetzt gewesen, um die Welt auszulöschen, aber lange genug, um die Machina Mundi zu zerstören. Vermutlich hatte Leonardos Eingreifen in den Vorgang der Transmutation dazu geführt, daß die Maschine des Raimundus Lullus sich selbst vernichtete.
    Tommaso hatte die Böschung erstiegen, um sich umzusehen. Als er, leicht hinkend, zu uns zurückkehrte, sagte er: »Die Abtei selbst liegt weit genug von der Höhle entfernt und ist verschont geblieben. Von dem Markt kann man das nicht behaupten. Ganze Gassen mit Ständen und Lagerschuppen sind eingestürzt, die Trümmer haben viele Menschen verletzt. Das Durcheinander auf dem Markt ist fast so schlimm wie das da unten. Ich glaube …«
    Er behielt für sich, was er glaubte, und starrte mit offenem Mund zu dem Tunneleingang, der vor unseren Augen zusammenbrach. Bevor die Machina Mundi endgültig von der Erde verschluckt wurde, wank-ten zwei schmutzbedeckte Gestalten ins Freie: Denis Le Mercier und der maskierte Großmeister. Der Vorsteher des Blindenhauses fiel auf die Knie und atmete tief durch. Der Großmeister stand aufrecht neben ihm, scheinbar vollkommen unbeeindruckt.
    »Das Böse ist stärker als seine Schöpfung«, flüsterte Leonardo. »Zeit, ihm ins Antlitz zu schauen!«
    Er ging auf die beiden Männer zu, nur die Laute in der Hand. Hatte er vergessen, daß er alle Nadeln verschossen hatte? Tommaso hob einen Ast vom Boden auf, eine kümmerliche Keule, und gesellte sich zu seinem Freund. Atalante war zu geschwächt, um einzugreifen. Ich vergewisserte mich mit einem schnellen Blick, daß Colette keine Gefahr drohte, und stand auf. Mit nichts als einem faustgroßen Stein bewaffnet, folgte ich den beiden Italienern.
    Der Großmeister zog sein Schwert und rief seinem Gefährten etwas zu. Le Mercier kam wieder auf die Beine und riß gleichfalls das Schwert aus der Scheide. Die letzten Templer stellten sich zum Kampf.
    Beide waren kräftige Männer und schienen geübt im Führen der Waffen.
    Fünf Schritte vor ihnen blieb Leonardo stehen und sagte: »Euer Spiel ist aus, Großmeister, und Ihr seid der Verlierer. Ergebt Euch in Euer Schicksal und zeigt Euer Gesicht!«
    »Warum sollte ich das tun?«
    Der Ton des Großmeisters wirkte so gelassen wie seine ganze Haltung.
    »Weil bald unsere Freunde hier auftauchen werden.«
    »Nun, meine Freunde sind bereits da!«
    Wie hatten wir nur Jehan de Harlay, den Hüter des Höhleneingangs vergessen können! Er hatte längst mit seinem knappen Dutzend Armbrustern in unserem Rücken Stellung bezogen. Ich verfluchte mich für unsere Nachlässigkeit, mochte sie auch mit der Erschöpfung zu erklä-
    ren sein, die den überstandenen Gefahren folgte. Und ich bangte um Colette, von der ich nun durch die Armbrustschützen abgeschnitten war.
    »Das Spiel ist erst nach der letzten Runde vorüber«, belehrte uns der Großmeister. »Und die letzte Runde gewinnt, wer die größten Reser-ven hat.«
    »Was wollt Ihr noch gewinnen?« fragte Leonardo. »Eure Teufelsmaschine ist zerstört, der Sonnenstein verloren.«
    »Man kann ihn wieder finden und eine neue Weltmaschine bauen.«
    Ich empfand beinahe so etwas wie Bewunderung für den Maskierten. Seine gelassene Haltung und seine Zuversicht hätten dieses Ge-fühl

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