Im Schatten von Notre Dame
kletterten hinauf. Als ich mich endlich hinter dem Italiener auf den Steg schwang, schwirrten schon die Bolzen durch die Luft. Beide fuhren in Quasimodos Brust. Ich hatte beim Sturm des Gaunervolks auf Notre-Dame erlebt, wie vollkommen unbeeindruckt der Glöckner durch den Pfeil blieb, den Jehan Frollo ihm in den Arm jagte. Aber zwei Geschosse, noch dazu in die Brust, waren etwas anderes. Quasimodo taumelte rückwärts und fiel auf den Rand des Stegs.
Leonardo und ich sprangen die Armbruster von hinten an und stie-
ßen sie von der Brücke. Mein Gegner schlug auf den Steinboden auf und blieb dort in unnatürlicher Verrenkung liegen. Der andere fiel in ein Becken mit kochendem Wasser; bevor ihn die Brühe verschluckte, stieß er noch einen gellenden Schrei aus. Ich warf einen ängstli-chen Blick zu dem Käfig mit Colette und Marc Cenaine, der etwa zwölf Klafter von mir entfernt über einem ähnlichen Becken hing.
Leonardo hetzte über den Steg, sprang über Villons reglosen Körper hinweg und eilte auch schon weiter, auf Dom Frollo zu. Ich konnte ihn nicht mehr einholen und ging neben meinem Vater in die Knie. Als ich seinen Kopf herumdrehte, sah ich seinen gebrochenen Blick. Auch wenn die Welt verloren war, ich hätte ihm gern noch gesagt, daß ich ihm alles verzieh, daß mein Herz für ihn schlug, wie nur das Herz eines Sohnes für den Vater schlagen kann.
Unter Tränen sah ich, daß Leonardos Anstrengungen vergebens waren. Frollo drückte den Smaragd in die metallene Halterung. Gleichzeitig schrie der Großmeister einen Befehl durch die Höhle, und einige Männer begannen, an langen Kurbeln zu drehen. Die Ketten mit den erzenen Würfeln senkten sich in das heiße Wasser. Die Flüssigkeit explodierte förmlich, als halte sie der eigenen Hitze nicht länger stand.
Dampf und Rauch quollen durch die ganze Höhle. Die Brücke schwankte und erbebte wie zuvor Villons Zitterstab. Es konnte sich nur noch um wenige Augenblicke handeln, dann würde auch ich in das heiße Wasser fallen.
Doch Leonardo gab nicht auf. Er duckte sich unter Frollos Schwerthieb weg und rammte sein gesenktes Haupt in den Leib des Gegners. Frollo wankte einen unsicheren Schritt nach hinten und wurde von dem sich aufbäumenden Quasimodo umgerissen. Mein Bruder packte den Kopf seines Ziehvaters und drehte ihn mit einem Ruck zur Seite, bis das Genick brach. Quasimodos Gesicht glänzte vor Befriedigung.
Der Sonnenstein strahlte eine ungeheure Kraft aus oder nahm sie in sich auf, ich weiß es nicht. Er glühte, aber nicht in seinem ursprünglichen Grün, sondern in einem blendenden Weiß. Wie das Kleid von Sita, als sie am Morgen nach ihrer Hinrichtung am Galgen hing.
Das ist die Transmutation! durchfuhr es mich. Das Verhängnis – Ananke!
Leonardo packte den weißglühenden Stein mit beiden Händen und zog ihn mit Gewalt aus der Halterung. Ich hatte erwartet, daß seine Hände verbrennen würden, aber es ging etwas anderes, Unheimliches, mit ihm vor. Für kurze Zeit war er von einer weißstrahlenden Aura umgeben, als sei die Kraft des Sonnensteins auf ihn übergegangen. Er schrie auf und ließ den Stein los, so daß er in das Wasserbecken fiel. Mit lautem Zischen stieg eine neue Dampfwolke auf und hül te uns ein.
»Weg hier!« schrie ich Leonardo und Quasimodo zu, bevor ich von der Brücke sprang und die Leiter hinunterrutschte, ohne auf Hautabschürfungen und Prellungen zu achten. Ich hörte das Krachen immer neuer Explosionen, spürte, wie die ganze Höhle erbebte. Ob Leonardo die Welt gerettet hatte, wußte ich nicht, aber es war klar, daß sich die Höhle in größter Gefahr befand. Selbst die Dragowiten rannten panisch durcheinander.
Auch ich rannte, aber mit festem Ziel. Noch immer schwebte der Eisenkäfig mit den beiden Gefangenen über einem der dampfenden, spritzenden Heißwasserbecken. Endlich erreichte ich die Schwenkvor-richtung des Balkens und setzte sie mit mehr Glück als Verstand in Bewegung. Vielleicht half mir auch die Kraft der Verzweiflung, die einen Mann beflügelt, wenn er die Geliebte in Lebensgefahr weiß. Knarrend und rasselnd schwenkte der Holzbalken mit dem Käfig herum, und ich drehte an der Kurbel, ließ den Käfig herab, bis er unsanft auf den Boden aufschlug. Colette und ihr Vater wurden kräftig durchgeschüttelt, aber was war das schon im Vergleich zu der Gefahr, in der sie eben noch im wahrsten Wortsinn geschwebt hatten!
Ein neues Beben erschütterte die Höhle, und faustgroße Steinbrok-ken regneten von
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