Im Schatten von Notre Dame
der Dragowiten oder der Wahrhaft Reinen Unterstützung erhielt, entzieht sich meiner Kenntnis. Mit Ausnahme von Colette habe ich keinen von denen, die in diese Angelegenheit verwickelt waren, jemals wieder gesehen.
Bei den Machtkämpfen, die sich nach Ludwigs Tod entspannen, ging es nur vordergründig um den Königsthron, in Wahrheit war es das letzte Gefecht zwischen den Wahrhaft Reinen und den Dragowiten; soviel kann ich auch aus der Entfernung sagen. Diesmal mußte Olivier le Daim das Spiel endgültig verloren geben. Ich weiß nicht, wie Philippe de Commynes es bewerkstelligte, aber er brachte den Großmeister erst ins Gefängnis und dann, im Jahr nach den hier geschilderten Ereignissen, an den Galgen von Paris.
Commynes selbst ging allerdings auch nicht unangefochten aus der Sache hervor und war für einige Zeit gezwungen, die Gastfreundschaft der königlichen Kerker in Anspruch zu nehmen. Vermutlich mußte Ludwigs Sohn, der als Karl VIII. den Thron bestieg und zu diesem Zeitpunkt noch ein Knabe war, erst Klarheit über das geheime Intri-genspiel gewinnen.
Der vielfältig begabte Leonardo trat tatsächlich in den Dienst des Herzogs von Mailand und machte auf so manchem Gebiet von sich reden. Von Tommaso hörte ich, er sei kein anderer als der ebenfalls viel-genannte Magier und Künstler Zoroastro da Peretola. Atalante erntete Ruhm als Sänger und Schauspieler und wurde anno 1490 nach Man-tua gerufen, um die Hauptrolle in Polizianos Flava d’Orfeo zu übernehmen.
Was aus der Pariser Gemeinde der Wahrhaft Reinen wurde, ist mir ebenso wenig bekannt wie das Schicksal von Mathias Hungadi Spicali und seinem kleinen, tapferen Volk. Ziehen die Ägypter noch immer rastlos durch die Lande, oder haben sie, da mit dem Verglühen des Sonnensteins ihre Mission hinfällig wurde, eine dauerhafte Zuflucht gefunden? Die Antwort mögen die Schicksalsvögel auf dem Mondberg wissen.
Ich selbst beschied mich mit der Stelle des Stadtschreibers in einem abgelegenen Ort weit weg von Paris, dessen Namen ich hier ebenso verschweige wie den, unter dem die Menschen in diesem Ort mich kennen. Man kann nie wissen, zu welchen Rachegelüsten sich Satan ver-steigt, selbst wenn er besiegt ist. Nach Paris kehrte ich niemals zurück.
Mögen die alten Mauern von Notre-Dame noch so viele Geheimnisse bewahren, ich werde der letzte sein, der versucht, sie ihnen zu entreißen. Mehr, als die Seelen der Menschheit zu retten, kann ein Mann nicht tun.
Obgleich – zuweilen, wenn ich von Raub und Mord, von Krieg und Plünderung draußen in der Welt höre, frage ich mich, ob ich wirklich auf der rechten Seite stand. Tat ich den Menschen einen Gefallen, als ich mithalf, sie all dem weiterhin, vielleicht für Jahrhunderte oder länger noch, auszusetzen? Oder ist es das größte Verhängnis, die wahre Ananke, ein Mensch auf dieser Welt zu sein?
Meine Arbeit trägt genug ein, um Colette, unserem Sohn Marc und unserer Tochter Paquette ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. In meiner freien Zeit vervollständige ich meine Aufzeichnungen über jene Ereignisse, denen beinahe die gesamte Menschheit zum Opfer gefallen wäre. Vielleicht ist in späteren Zeiten die Wahrheit einmal von Bedeutung.
Wann immer ein fahrender Sänger in unseren Ort kommt und eine von François Villons Balladen vorträgt, erhält er von mir einen besonders üppigen Lohn. Manchmal des Nachts, wenn Colette friedlich an meiner Seite schläft, ist mir, als stünden Villon und Quasimodo neben unserem Bett und lächelten mir zu. Ich weiß dann nicht, ob ich wache oder träume. Aber Glück und Zufriedenheit überwältigen mich, und ich lächle zurück.
Victor Hugo und das Geheimnis von Notre-Dame
Nachwort des Herausgebers
Victor Hugos Roman
Als im Jahre 1831 der Roman Notre-Dame de Paris des jungen französischen Dichters Victor Hugo (1802-1885) erschien, wußte das begeisterte Publikum nicht, welch schwierige Schaffensphase hinter dem Autor lag, und es ahnte nicht, daß die dickleibige zweibändige Ausgabe unvollständig war. Zwei Hinweise darauf, daß der Stoff für den Schrift-steller etwas Besonderes darstellte. Zugleich Hinweise auf das Geheimnis, das Hugos Roman umgibt und das mit dem Auffinden der hier veröffentlichten Aufzeichnungen des Armand Sauveur de Sablé gelüftet wird.
Drei Jahre lang hatte Hugo recherchiert, Quellen über das mittelalterliche Paris studiert und die Gebäude besucht, die aus jener Zeit noch erhalten waren. Zweifellos war er an der Geschichte überaus
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