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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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der bröckelnden Decke herab, während ich verzweifelt nach einem Weg suchte, die verschlossene Tür des Käfigs zu öffnen. Weder besaß ich geeignetes Werkzeug, noch ahnte ich, wo sich der Schlüssel befand.
    Da löste sich ein Schemen aus dem dichter werdenden Dunst. Quasimodo wankte auf mich zu. Er hatte die Bolzen aus seinem Leib gerissen wie er es schon mit Jehan Frollos Pfeil getan hatte. Seine Brust war über und über mit Blut verklebt, und noch immer sprudelte es rot aus den Wunden. Ein Mann von geringerer Kraft wäre längst zusammengebrochen.
    Quasimodo aber war stark genug, sich an der Käfigtür zu versuchen, nachdem ich ihm durch Zeichen verdeutlicht hatte, worum es ging. Er spannte seine mächtigen Muskeln an, sog Luft in sich hinein, bis seine aufgeblasenen Backen dick wie Kürbisse waren. Dann entlud er alle Kraft in einem Augenblick und riß die Käfigtür aus den Angeln.

    »Schnell, raus hier!« rief ich. Jetzt war keine Zeit für große Worte.
    Colette kroch ins Freie und keuchte: »Vater ist sehr schwach …«
    Ich zog ihn aus dem Käfig und erschrak darüber, wie leicht er war, wirklich nur Haut und Knochen. Er konnte kaum eine Hand bewegen, geschweige denn aus eigener Kraft die Höhle verlassen.
    »Ich trage ihn«, sagte Quasimodo und hob Cenaine hoch.
    Ich hakte Colette unter. So taumelten wir durch die fauchende, qual-mende, zerberstende Höhle zu dem Tunnel, der ins Freie führte, nicht wissend, ob die Welt noch so viel Zeit hatte, wie wir brauchten, um den unterirdischen Gang zu durchqueren.

Kapitel 6
    Das Antlitz des Bösen
    Vielleicht war es gut daß wir durch völlige Finsternis flohen. Um uns her brach immer wieder Erdreich und Gestein aus Decke und Wänden. Womöglich hätten wir den Mut verloren, hätten wir das alles mit angesehen. So vernahmen wir nur das Bersten, Zischen und Krachen, das uns aus der Höhle folgte wie das Gebrüll einer wilden Bestie, die ihrer Beute nachjagt. Was uns vorwärts trieb, war der verzweifelte Wunsch, dem Inferno zu entkommen.
    Als wir tatsächlich irgendwann aus dem Höllenschlund ins Freie taumelten, erschien es mir so unglaublich, daß ich weinend zu Boden sank und nicht aufhören konnte, Gräser, Gestein und Unkraut zu be-fühlen. Selbst die häßlichste Distel erschien mir wunderschön, denn sie war der Beweis für den Fortbestand der Welt.
    Die Transmutation und damit das Verhängnis – die Ananke – hatte nicht stattgefunden!
    Leonardo hatte rechtzeitig eingegriffen, aber zu welchem Preis …
    Immer mehr Dragowiten taumelten ins Freie, verwirrt und zerschunden und wohl kaum begierig, gegen uns vorzugehen. Doch zur Sicherheit hatten wir uns in einer Mulde versteckt, die im Schatten der einsetzenden Dämmerung lag. Als ich Leonardo und Tommaso erblickte, die Atalante mit sich schleppten, sprang ich auf und winkte ihnen. Atalante hatte die Verletzung am Arm und, wie Tommaso, etliche Schrammen und kleinere Wunden davongetragen. Leonardo aber erschien mir wie ein Geist, wie ein völlig verwandeltes Wesen, als habe er die Transmutation durchgemacht, die er der Welt erspart hatte.

    Sein ehemals glattes, schönes Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen, war das eines Greises und nicht mehr das eines vor jugendlicher Kraft strotzenden Mannes. Das vormals blonde, lockige Haar hing in schlohweißen Strähnen herunter, war oben so ausgedünnt, daß der kahle Schädel durchschimmerte. Die Kopfhaut, das Gesicht und besonders die Hände wiesen Brandblasen auf, die Kleidung war versengt.
    War das die Kraft des weißglühenden Sonnensteins gewesen, oder war Leonardo ein Opfer des kochendes Wassers?
    Als ich ihn vorsichtig darauf ansprach, sagte er nur: »Das ist kein hoher Preis für die Rettung der Menschheit. Andere haben ihr Leben gegeben.«
    »Ihr sprecht von meinem Vater.«
    »Und von den beiden.«
    Er zeigte mit der Pferdekopflaute, die er aus irgendeinem Grund aus der einstürzenden Höhle gerettet hatte, zu Colette, Marc Cenaine und Quasimodo. Colette hielt den Kopf ihres Vaters im Schoß und wiegte ihn sanft hin und her. Seine Augen waren geschlossen, sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Mein Bruder hatte einen Toten gerettet.
    Und Quasimodo selbst würde auch bald zu den Toten gehören. Wie ein waidwundes Tier lag er seitlich im Gras und sah zu, wie das Blut aus seinem Körper floß. Ich beugte mich über ihn und brachte nicht mehr über die Lippen als ein klägliches »Bruder …«
    Es war das erstemal, daß ich ein glückliches Lächeln auf

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