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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Erzdiakon von Notre-Dame erscheint Ihr mir reichlich jung und, mit Verlaub, ein wenig zu ausgelassen.«
    Jehan Frollo, den man auch Jehan oder Joannes du Moulin nannte, wurde von einem Lachkrampf gepackt und so arg geschüttelt, daß er vom Fenstersims in die Menge unter uns gefallen wäre, hätten nicht seine Freunde und ich im letzten Augenblick sein abgeschabtes Wams gepackt. »Ihr seid köstlich, mein Freund, einfach köstlich!« kicherte er und schüttelte die Tränen seiner unbegreiflichen Erheiterung auf meinen Mantel.
    »Wieso?«
    »Weil ich mir gerade einen ausgelassenen Dom Claude Frollo vorgestellt habe. Das ist so, als denke man sich ein eckiges Rad, einen rei-
    ßenden Strom ohne Wasser oder ein verführerisches Weib ohne dralle Rundungen.« Erneut verfiel Jehan du Moulin in hysterisches Gekicher.
    »O hätte mein Bruder doch nur Euren Scherz gehört – vielleicht hätte er dann einmal in seinem traurigen, ernsten Leben gelacht!«
    »Der Archidiakon ist Euer Bruder?«
    »So sagte man mir, seit ich aufwuchs. Missfällt Euch das?«
    »Ganz im Gegenteil«, erwiderte ich, stellte mich vor und erklärte, weshalb ich den Archidiakon suchte. Allerdings ließ ich den Geistermönch unerwähnt, um nicht womöglich unsanft vom Fenstersims gestoßen zu werden.
    »Ihr habt recht, Monsieur Armand, mein Bruder sucht tatsächlich einen neuen Schreiber, seit Pierre Gringoire wieder unter die Dichter gegangen ist. Aber daß Ihr mein staubtrockenes Bruderherz hier findet halte ich für fraglich. Bei Notre-Dame solltet Ihr Euch umtun!«
    »Dort verbrachte ich schon eine wenig angenehme Nacht«, knurrte ich und bat den Blonden, mir seinen Bruder zu zeigen, falls er doch in den Justizpalast käme.
    Statt Claude Frollo erschien eine Vielzahl ehrbarer und hoher Herren, die von Jehan Frollo und seinen Kommilitonen mit spöttischen Rufen begrüßt wurden. Für mich eine gute Gelegenheit, mich mit dem Adel und dem hohen Bürgertum von Paris vertraut zu machen. Wenn es mir beim Archidiakon nicht gelang, würde ich vielleicht bei einem von ihnen Lohn und Brot finden.
    Die Studentenbande ergoss ihren Spott über einen wohlbeleibten Mann, der sogleich laut seinen Unmut äußerte: »Solch dreiste Kerle wären zu meiner Zeit mit Reisig gepeitscht und danach mit demselben Reisig verbrannt worden!«
    Die suchenden Blicke meiner Begleiter richteten sich auf den Vorlauten. »Wer spuckt denn solche frechen Töne?« – »Den kenn ich doch, das ist Monsieur Andry Musnier.« – »Na klar, Musnier, einer von unseren vier vereidigten Universitätsbuchhändlern.« – »He, Bücherlind-wurm, spei nicht zu heißen Atem, sonst verbrennst du mitsamt deinem Papierkram!«
    »Dann müßte alles neu geschrieben werden, und mein Freund Armand Sauveur riebe sich die Hände«, krakeelte Jehan Frollo von allen am lautesten.
    Unter uns erhob sich erneut die kreidige Stimme des Universitätsbuchhändlers: »Das ist der Weltuntergang. Solch zügellose Dreistigkeit der Studentenschaft ist unerhört. Alles wird verdorben durch die verfluchten Erfindungen, die unser unseliges Jahrhundert hervorgebracht hat, die Kanonen, die Feldschlangen, die Mörser und zuvörderst der Buchdruck, diese neue Pest aus Deutschland. Gibt’s nicht länger Ma-nuskripte, gibt’s auch keine Bücher mehr. Das Ende der Welt naht!«
    Joannes von der Mühle und die Seinen ließen neuerlichen Spott er-schallen, ich aber schwieg und fand, daß Monsieur Andry die rechte Einstellung besaß und kluge Gedanken äußerte. Ein zwölffaches Ge-läut ließ alles Gejohle und Gerufe verstummen. Es erklang nicht mit der Macht, die den Glocken von Notre-Dame innewohnt, war aber laut durch seine Nähe: die große Uhr des Justizpalastes. Die Mittagsstunde war endlich gekommen und mit ihr die Zeit, zu der das Eintreffen der flämischen Gesandtschaft und die Aufführung des Mysterienspiels erwartet wurden.
    Ich blickte zu der samt- und brokatgeschmückten Tribüne, die man für die flämischen Gesandten errichtet hatte und die so leer war wie mein Magen. »Warum wird um diese Flamen soviel Aufhebens gemacht? Man könnte meinen, das Schicksal Frankreichs hinge von ihnen ab.«
    »Vielleicht meint der König genau das und hat sich deshalb aus seiner Festung in Plessis-les-Tours herausgewagt, mitten in unser schö-
    nes, altes, schmutziges, lautes Paris«, antwortete Jehan Frollo. »Zumindest geht’s ihm um das Schicksal Burgunds. Er möchte den Dauphin liebend gern mit Margarethe von Flandern vermählen.

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