Im Schatten von Notre Dame
verschwand die Unbekannte hinter einem Pulk krakeelender Bauern, die in westlicher Richtung marschierten, zum Justizpalast. Aber seltsam, obwohl ich die Augen nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen hatte, erschienen sie mir vertraut.
Nun war ich nicht nur abgerissen und hungrig, sondern stank auch noch zum Himmel gleich einem ganzen Sündenpfuhl. Konnte es un-geeignetere Voraussetzungen geben, um eine ehrbare Anstellung zu erlangen? In dieser trübseligen Verfassung ließ ich mich von der Menge mitreißen, dem alten Königspalast entgegen. Das turmbewehrte Gebäude unterhalb der Wechsler- und der Müllerbrücke wurde trotz der frühen Stunde von Vergnügungssüchtigen und Schaulustigen in unübersehbarer Zahl belagert.
»So viel Publikum?« wunderte ich mich. »Dann hat das Mysterienspiel sicher schon begonnen.«
»I wo«, meckerte ein kleiner blonder Kerl, dessen schmaler Kopf zu Ehren des Tages von Teufelshörnern geschmückt wurde. »Die Aufführung ist erst für die Mittagsstunde angesetzt, wenn die flämische Gesandtschaft hier eintrifft.«
»Wozu dann jetzt schon das Gedränge?«
»Alles Gaffer«, wieherte der kleine Teufel, der sich über jedes seiner eigenen Worte zu amüsieren schien. Er erschien mir wie ein T, das mit ständig rudernden Armen versucht, die mangelnde Standfestig-keit seines kleinen Fußes auszugleichen.
»Und was begaffen sie?« fragte ich.
»Andere Gaffer. Reicht das nicht? Zudem gilt es, sich rechtzeitig einen guten Platz zu sichern. Das Feuer auf dem Grève-Platz mag einen in diesen kalten Tagen erwärmen, aber mehr Vorteile hat’s nicht.
Und der Maibaum, das prophezei’ ich Euch, wird auf dem Friedhof der Braque-Kapelle schneller verfaulen als die Verbuddelten. Nein, glaubt mir, zerlumpter Freund, hier im Palast schlägt heut das Herz von Paris. Hier gibt’s hohe Herren und schlechte Komödianten zu bestaunen.
Haltet Euch nur an mich, Meister Bettelrock, und Ihr sollt eine gute Aussicht genießen!«
Ob das Angebot ernst gemeint war oder nicht, ich nahm es an. Zu meiner Verwunderung gelang es dem blonden Dämon, sich mittels allerlei Verrenkungen und Schabernacks immer weiter nach vorn zu drängen, bis er schließlich, gefolgt von einem Schatten namens Armand Sauveur, in das alte Gemäuer eindrang und demselben Ort zustrebte wie alle andern auch: dem Großen Saal.
Hier, wo sonst über die Auslegung der Gesetze verhandelt und Recht gesprochen wurde, feierte heute das Volk von Paris, hohe Bürger und niederes Gesindel. Zielstrebig kämpfte sich mein Dämon zu einem großen Fenster vor, dessen Verglasung von ein paar jungen Burschen eingedrückt worden war. Sie hatten sich auf dem Sims niedergelassen, um von diesem erhöhten Aussichtspunkt die Festlichkeiten zu beobachten und mit reichlich Spott zu kommentieren. Flink wie eine Ei-dechse hangelte sich das blonde Teufelchen am reich verzierten Mauerwerk zu den vorlauten Studenten hinauf, ich hinterdrein.
Noch war ich damit beschäftigt, mir auf dem dicht besetzten Sims einen halbwegs sicheren Platz zu suchen, da horchte ich auf, als einer der Studenten meinen blonden Führer begrüßte:
»Bei meiner Seele, da seid Ihr endlich, Jehan Frollo de Molendino!
Schon von weitem sah ich Eure flinken Arme und Beine wie Windmühlenflügel die Menge zerteilen. Zu Recht nennt man Euch Joannes von der Mühle! Wir hatten alle Mühe, Euch einen Ehrenplatz freizu-halten. Und jetzt schleppt Ihr auch noch einen stinkenden Bettler an.
Hat die Festtagsstimmung Euch vergessen lassen, daß Ihr Euch Mildtätigkeit nicht leisten könnt?«
»Der eine ist arm und stinkt von außen, der andere ist reich und tut’s von innen!« krähte mein blonder Bekannter. »Nur am Narrentag sind wir alle gleich, die Nasen fest verschlossen von einem Schnupfen, den weder Medicus noch Bader heilen kann, sondern allein der Schenken-wirt.«
Erregt über den eben gehörten Namen, beschloß ich großmütig, der Reden über meine angegriffene körperliche Erscheinung nicht zu achten und fragte meinen neuen Bekannten: »Ihr heißt wirklich Frollo?«
»So sagte man mir, seit ich aufwuchs. Missfällt Euch der Name?
Dann nennt mich Jehan du Moulin nach dem Ort, wo ich die Mutter-milch genoß, wenn’s auch die einer fremden Müllerin war.«
»O nein, Euer Name gefällt mir sehr.«
Der Teufel griente. »Mit wie wenig eine arme Seele doch zu beglük-ken ist!«
»Ich suche nämlich einen Frollo«, erklärte ich.
»Ihr habt ihn gefunden.«
»Wohl kaum. Für den
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