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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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paar Schatten.
    »Jetzt lass mich allein«, sagte er. »Ich muss an meinem Buch weiterschreiben, denn wenn die Kreaturen erfahren, wie viel ich getan habe, um sie zu schützen, werden sie mich lieben. Und es wird keinen Widerstand und keine Fluchtversuche mehr geben, und wo ich gehe und stehe, werden sie mir im Wald zujubeln, weil ich alles verändert habe . Geh jetzt, Schattenhexe. Geh! Aber bleibe im Wald und halte dich nicht jenseits der Bäume auf. Hast du mich verstanden?«
    »Ja, Meister.«
    Die Schattenhexe drehte ihren Kopf und verwandelte sich einmal mehr in einen Raben. Sie flog aus demselben Fenster, durch das sie gekommen war, und stieg ziellos in die Luft. Hoch über den Bäumen schwebend, bereute sie zutiefst, dass sie das Armband verloren hatte. Doch die Trauer der Schattenhexe
galt auch dem Jungen. Sie war sich gewiss, dass er eines Tages in den Wald gehen würde, um niemals wiederzukehren - oder so verändert wiederzukehren, dass ihn niemand mehr erkennen würde.
    Sie flog so hoch, dass sie in der Ferne das weiße Haus sah, und dachte an die Menschen, die sich darin befanden.
    Bleibt, wo ihr seid , dachte sie.
    Bleibt in Sicherheit.

In der Küche
    D as Gesicht von Tante Eda war genauso wütend wie der Wind, der gegen das Küchenfenster schlug.
    »Du hast meine Regel gebrochen!«, sagte sie, indem sie das letzte Stück Fleisch für Ibsens Abendmahlzeit aufschnitt. »Die wichtigste aller Regeln!«
    »Ich habe sie nicht gebrochen«, entgegnete Samuel. »Ich bin ja nicht in den Wald hineingegangen .«
    »Aber du warst schon fast oben auf dem … auf dem …«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »dem Hügel … und wolltest gerade in den Wald gehen, oder etwa nicht?«
    »Ich hatte eine Katze gesehen«, sagte Samuel zögerlich.
    »Eine Katze?«
    »Eine schwarze Katze. Ich bin ihr ein Stück hinterhergegangen. Dann ist sie im Wald verschwunden.«
    »Jedenfalls musst du begreifen, dass ich diese Regeln nicht zum Spaß aufstelle. Glaubst du etwa, ich denke mir einfach irgendwelche Vorschriften aus, weil das ein Hobby von mir ist? Zum Beispiel: ›Am Dienstag wird nur grüne Kleidung getragen. ‹ Das ist doch Unsinn. Ich habe euch verboten, in den Wald zu gehen, weil es dafür einen ganz bestimmten Grund gibt.«
    »Ich werde aber trotzdem in den Wald gehen.« Samuel wollte seine Tante nur auf die Probe stellen. In Wahrheit hatte er nicht vor, in den Wald zu gehen, wollte jedoch wissen, warum ihr das so wichtig war.

    In diesem Moment geschah es. In diesem Moment, als er das erzürnte Gesicht seiner Tante mit dem zusammengekniffenen Mund sah, wurde ihm schlagartig klar, dass sie ihn nicht kontrollieren konnte.
    Sein ganzes Leben lang hatten ihn seine Eltern davon abgehalten, dies oder jenes zu tun.
    Wenn sie einen Blauen Brief erhielten, durfte er nicht mehr mit seiner Playstation spielen.
    Wenn er zu spät nach Hause kam, durfte er am nächsten Abend nicht weggehen.
    Wenn er sich mit seiner Schwester raufte, wurde ihm das Taschengeld gestrichen.
    Die meiste Zeit über machte er sich Gedanken, was ihm wohl als Nächstes gestrichen wurde, wenn er sich danebenbenahm.
    Doch was hatte er jetzt noch zu verlieren?
    Er hatte Mum und Dad verloren. Er hatte die Hälfte seiner Schwester verloren (den Teil, der sprechen, lächeln und singen konnte). Er hatte all seine Freunde verloren. Er konnte nicht mehr fernsehen oder mit seiner Playstation fremde Planeten angreifen.
    Was für Strafen konnte sich Tante Eda schon ausdenken?
    Das Essen hasste er sowieso, also konnte er mit dem Gedanken leben, kein Abendessen zu bekommen. Seinetwegen konnte sie ihn auch gerne auf sein Zimmer schicken. Na und? Dort war es auch nicht langweiliger als in den anderen Räumen. Keine der Sanktionen, die sie verhängen könnte, würde so schrecklich sein wie die Erinnerung an das, was auf der B642 geschehen war. Er hatte also nicht das Geringste zu verlieren.
    »Ich werde in den Wald gehen«, sagte er entschlossen. »Eines Tages, wenn du es nicht siehst, werde ich hineingehen und selbst nachschauen, was an ihm so besonders ist, dass du
nicht einmal darüber sprechen kannst. Du kannst mich nicht die ganze Zeit im Auge behalten.«
    Tante Eda warf ihm einen scharfen Blick zu. »Und warum willst du das tun, obwohl ich dir erklärt habe, dass dies die wichtigste aller Regeln ist?«
    »Weil ich mich langweile«, antwortete Samuel. »Was soll ich hier drinnen denn tun? Es gibt keinen Fernseher. Es gibt gar nichts. Nur haufenweise norwegische

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