Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
Vom Netzwerk:
Bücher mit bescheuerten Wörtern und bescheuerten Buchstaben wie æ, ø und å.«
    »Ach, du glaubst also, dass alles nur ein Spiel ist!«, entgegnete Tante Eda. »Du findest es lustig, die Regeln deiner langweiligen alten Tante in ihrem langweiligen alten Haus zu brechen! Und wenn ich dich warnen würde, von der Klippe zu springen, würdest du von der Klippe springen, nicht wahr?«
    »Hier gibt es keine Klippe«, sagte Samuel, »sondern nur Bäume.«
    Tante Eda lachte. Doch es war kein fröhliches Lachen, sondern eher ein erregter, spitzer Schrei, der bis ins Wohnzimmer zu hören war. »Ha!«
    Im Wohnzimmer blickte Martha zu ihrem Bruder hinüber, der in der Küche stand. Das laute Geräusch ihrer Tante hatte sie aus ihrer Trance gerissen, wenn auch nur für kurze Zeit.
    »Ha! Nur Bäume!«, rief Tante Eda. »Glaubst du, ich hätte euch den Wald nicht persönlich gezeigt, wenn es nur Bäume wären?«
    Samuel zuckte die Schultern.
    »Samuel, bitte!« Als Tante Eda nur mit größter Mühe in der Lage war, ein besonders zähes Stück Fleisch zu schneiden, bemerkte Samuel, dass sie den Tränen nah war.
    Schließlich gelang es ihm, das zu sagen, was er gestern nicht über die Lippen gebracht hatte.
    »Es … es tut mir leid.« Er spürte, wie gut ihm die Entschuldigung
tat, als hätte ihm jemand einen schweren Rucksack abgenommen.
    »Oh, Samuel«, sagte Tante Eda und wischte sich ihre Tränen fort. »Du hast ganz Recht. Regeln allein reichen nicht aus. Ich kann dir nicht einfach verbieten, in den Wald zu gehen. Schließlich bist du ein Junge. Und für Jungen sind Regeln wie ein Spielzeug, mit dem man sich eine Weile beschäftigt, ehe man es kaputtmacht.«
    Tante Eda schloss die Augen und ließ die Luft langsam aus ihrer Nase entweichen, um zu zeigen, dass sie eine schwerwiegende Entscheidung traf.
    »Ich muss dir vom Wald erzählen«, flüsterte sie, damit Martha sie nicht verstehen konnte. »Ich muss dir erzählen, was mit Onkel Henrik passiert ist.«
    »Willst du es nicht auch Martha erzählen?«, fragte Samuel, der den Kopf drehte und Martha neben Ibsen auf dem Wohnzimmerteppich sitzen sah.
    Tante Eda runzelte die Stirn. »Findest du nicht, dass sie schon genug mit sich herumzutragen hat?«
    Samuel nickte.
    »Wir werden es ihr erzählen, aber nicht jetzt. Fürs Erste wird es unser Geheimnis sein, verstehst du? Unser Geheimnis. Ein sehr ernstes Geheimnis. Ich gebe Ibsen jetzt im Eingangsbereich sein Futter und dann werde ich dir alles erzählen, okay?«
    »Okay.«
    »Ibsen! Ib-sen! Mørbrad! Es gibt Steak!«
    Doch der Hund blieb auf dem Teppich liegen und blickte zu Martha empor, als wolle er sagen: »Ich komme gleich. Aber zuerst muss ich Martha noch ein bisschen Gesellschaft leisten.«
    Samuel beobachtete, wie Tanta Eda den Napf mit dem Fleisch in die Diele stellte.

    Als sie zurückkam, wirkte sie fest entschlossen, eine Geschichte zu erzählen, die all ihren Mut erforderte. Sie schloss erneut ihre Augen und holte tief Luft, als wolle sie tauchen.
    »Bist du bereit?«, fragte sie.
    »Ja«, antwortete Samuel.
    »Also gut …«

Die Geschichte von Onkel Henrik
    O nkel Henrik war ein wunderbarer Mann. Der wunderbarste Mann, den ich je kennengelernt habe. Und es ist reines Glück, dass ich ihm überhaupt begegnet bin. Er war Skispringer und ich Speerwerferin.
    Das ist jetzt 25 Jahre her. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass wir Spitzensportler waren, denn wir haben beide an den Olympischen Spielen teilgenommen. Ja, Samuel, du hast richtig gehört … deine langweilige alte Tante hat an den Olympischen Spielen teilgenommen. Ich habe zwar nie eine Medaille gewonnen, doch ich war nahe dran. Sehr nah. Manchmal denke ich, wenn ich nur eine Stunde länger geschlafen oder zum Frühstück ein Ei mehr gegessen hätte … doch, was soll’s, ich trauere der Vergangenheit nicht nach.
    Zwei Jahre später war ich zu der Abschlussfeier der Olympischen Winterspiele in Lillehammer eingeladen. Lillehammer liegt auf der anderen Seite der Berge, die du siehst, wenn du aus dem Fenster schaust. Das waren die Olympischen Spiele, bei denen Henrik seine Silbermedaille gewann … oh, dein Onkel war ein großartiger Skispringer. Er hatte keine Angst. Absolut gar keine. Er blieb so lange in der Luft, dass man hätte glauben können, er habe den Vögeln das Geheimnis des Fliegens abgeschaut. Während er flog, lehnte er sich so weit nach vorne, dass er mit seiner Nase fast die Skispitzen berührte. Es war ein unglaublicher

Weitere Kostenlose Bücher