Im Schattenwald
eine wundervolle Zeit miteinander, doch dann passierte etwas Schreckliches, das unser Leben von Grund auf veränderte.«
Die Geschöpfe des Schattenwalds
S amuel stand jetzt ganz im Bann von Tante Edas Geschichte. Er fragte sich, ob sie damals schon genauso streng und zugeknöpft gewesen war wie heute, aber er konnte es sich nicht vorstellen. Und was war mit Onkel Henrik geschehen?
Als sie sich dem entscheidenden Punkt der Geschichte näherte, war ihr deutlich anzumerken, dass sie nicht wusste, wie sie fortfahren sollte. Sie hielt plötzlich inne - wie ein Mensch, dem plötzlich klar wird, dass er auf einen Klippenrand zuläuft. Sie machte sich eine Tasse Eierkaffee und schenkte Samuel ein Glas Moltebeersaft ein.
In der Diele zog Ibsen seinen Metallnapf hinter sich her, während er die letzten Fleischreste aufleckte.
»Okay«, sagte Tante Eda und blies auf ihren Kaffee, sodass kleine Wellen entstanden. »Ich werde dir jetzt den Rest der Geschichte erzählen.«
Sie holte tief Luft, wie ein Schwimmer vor dem Tauchen. Als sie zu sprechen begann, erstarb plötzlich der Wind, der eben noch an den Scheiben gerüttelt hatte, als wolle auch er zuhören.
»Eines Tages bemerkten wir, dass etwas nicht in Ordnung war.
Die Ziegen wurden immer weniger. An jedem Morgen war
eine weitere verschwunden. Onkel Henrik war so verzweifelt, dass er nach Flåm fuhr, um den Dorfbewohnern davon zu erzählen. Aber du kannst dir ja denken, was sie gesagt haben. Sie machten die Kreaturen des Waldes dafür verantwortlich, insbesondere die Trolle. Trolle seien dafür bekannt, Ziegen zu stehlen, erklärten sie ihm.
Ich sagte Henrik, er solle nicht auf diese einfältigen Leute hören, die ihrem Aberglauben verfallen seien. Doch Henrik meinte, das sei tatsächlich die einzige Erklärung. Auch gebe es in der ganzen Umgebung niemand, der sich ebenfalls Ziegen hielte, und es sei doch nicht möglich, jede Nacht ein Tier durch einen Unfall zu verlieren.
An jenem Tag, an dem wir unsere elfte Ziege verloren hatten, fuhr Henrik zur Buchhandlung nach Flåm und kaufte sich das Buch von Professor Tanglewood. Dort hieß es, Trolle seien dafür bekannt, Ziegen zu stehlen und Menschen zu töten.
Je weiter er las, desto mehr glaubte er an die Geschöpfe des Schattenwalds . Er konnte sich gar nicht mehr von dem Buch losreißen.
Nachdem er mit der Lektüre fertig war, sagte er, es gäbe nur eine Möglichkeit, unsere Ziegen zu finden, und zwar selbst in den Wald zu gehen. Ich erinnerte ihn an sein Versprechen, doch ich wusste, dass es nichts nutzte. Er hatte denselben Blick wie vor einem Skisprung und sagte immer wieder: ›Diebstahl darf man niemandem durchgehen lassen - nicht einmal den Trollen.‹
Ich bot ihm an mitzukommen, doch er sagte, ich solle auf die neun Ziegen aufpassen, die uns noch geblieben waren. Ich sagte: ›Aus diesem Wald kommt man nicht mehr heraus.‹ Und er entgegnete: ›Nur wenn man nicht wirklich will . Mach dir keine Sorgen, Liebes. Was auch geschehen mag - ich werde immer den Weg zu dir zurückfinden. Kein Troll wird mich davon abhalten. Das verspreche ich dir.‹
Darauf ging er in den Wald und ich wartete auf ihn. Ich wartete und wartete. Nach drei Tagen fuhr ich nach Flåm. Ich sagte der Polizei, dass er verschwunden sei, doch die flüchtete sich in Ausreden. Sie sagten, der Schattenwald gehöre nicht zu ihrem Einsatzgebiet. Ich erzählte jedem, dass Henrik verschwunden sei, doch niemand traute sich, in den Wald zu gehen, um nach ihm zu suchen. Nicht einmal Oskar, der so viel Geld mit Henriks Käse verdiente.
Ich hielt jede Nacht bei den Ziegen Wache, wie Henrik mir aufgetragen hatte, doch schließlich konnte ich nicht die ganze Nacht lang wach bleiben, und immer wenn ich einschlief, war später eine weitere Ziege verschwunden. Das ging so lange, bis alle Ziegen verschwunden waren. Jetzt hatte ich keine Ziegen und keinen Henrik mehr.
In der Nacht, in der die letzte Ziege verschwand, hatte es stark geschneit. Am Morgen entdeckte ich Fußabdrücke im Schnee, die aus dem Wald gekommen waren. Mein Herz machte einen Sprung. Henrik war zurückgekehrt! Doch dann sah ich, dass die Fußabdrücke in einem Bogen in den Wald zurückführten. Ich sah mir die Fußabdrücke genauer an und entdeckte, dass es sich nicht um das Muster einer Schuhsohle handelte, sondern um den Abdruck eines nackten Fußes - eines großen Fußes mit drei Zehen. Dem Fußabdruck eines Trolls. Henrik hatte vollkommen Recht gehabt. Trolle hatten unsere Ziegen
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