Im Schattenwald
einen Federkiel in der Hand und beugte sich über seinen Schreibtisch, auf dem ein leeres Blatt Pergament lag . Dieser Raum war zurzeit sein
bevorzugter Aufenthaltsort. Es handelte sich um sein Arbeitszimmer, auf dessen Schreibtisch sich nur ein einziges Buch befand - sein Bestseller Die Geschöpfe des Schattenwalds . Auch in den Regalen befanden sich keine Bücher, sondern Köpfe. Eingelegte Köpfe. In Vorratsbehältern. Die Köpfe derjenigen, die er als »Feinde des Waldes« bezeichnete. All die Wesen, die vergeblich versucht hatten, in die jenseitige Welt zu fliehen.
Der Mann, dessen Name Horatio Tanglewood war, versuchte seit zehn Jahren, seine Autobiografie zu schreiben, kämpfte aber noch immer mit dem ersten Satz:
»Ich wurde in einer stillen, sternklaren Nacht geboren«, murmelte er vor sich hin. »Ach, Unsinn! Völlig unbrauchbar!«
Die Schattenhexe räusperte sich. »Meister?«
»Was gibt’s?«, raunzte er, ohne sich umzudrehen.
»Ich bringe Euch Neuigkeiten, Meister.« Die Schattenhexe bemerkte die Unsicherheit in ihrer eigenen Stimme. Auch nach all den Jahren fürchtete sie noch immer den Mann, in dessen Diensten sie stand.
»Sprich weiter!«, befahl er.
Also fuhr die Schattenhexe fort, mit seinem Hinterkopf zu sprechen. »Ich war außerhalb des Waldes, Meister, und habe das weiße Holzhaus beobachtet, wie Ihr mich geheißen habt. Ich saß eine Weile im Gras, als ich … einen Jungen sah. Einen richtigen Jungen, Meister.«
»Einen Jungen?« Professor Tanglewood drehte sich mit seinem Stuhl herum. Er hatte ein längliches, hageres Gesicht und war schon ein wenig in die Jahre gekommen, sah jedoch jünger aus als die Hexe. Unterhalb seines linken Auges verlief eine dünne, horizontale Narbe. Seine Haare waren immer noch dunkel und in einer boshafteren Version der Welt hätte er glatt als gutaussehend gelten können.
»Ja, Meister, ein Junge. Er kam zu mir, also blieb ich ganz ruhig, um ihn besser betrachten zu können. Doch dann versuchte er, mich festzuhalten und …«
Der Meister warf einen scharfen Blick auf ihre Handgelenke. »Du trägst nur ein Armband, Schattenhexe. Das schwarze. Wo ist das andere?« Er stand auf und kam auf sie zu.
»Als er mich packen wollte, da hab ich den Kopf weggezogen, Meister. Er hielt aber bereits das weiße Halsband fest - ich meine das Armband, das ich meiner Schwester gestohlen habe … Ich habe all meine Kräfte eingesetzt, um es zurückzuholen, aber Ihr wisst ja, wie wenig ich außerhalb des Waldes bewirken kann. Mir blieb nichts anderes übrig, als mit einem Zauberspruch seine Erinnerung zu löschen. Ich bin untröstlich, Meister.«
Professor Tanglewood schloss seufzend die Augen und sagte mit einer Stimme, so ruhig und unheilvoll wie eine Windböe, die über den Friedhof streicht: »Du hast das Armband verloren!«
»Es tut mir leid, Meister.«
»Es tut dir leid? Was für eine sinnlose Formulierung. Was nützt sie mir? Kann sie das Armband wiederbeschaffen? Kann sie neugierige Kinder davon abhalten, den Wald zu betreten? Kann sie das Buch für mich schreiben?«
»Nein, Meister, das kann sie nicht.«
Professor Tanglewood starrte die Schattenhexe lange an und fragte sich, wann er sie umbringen und ihr die Macht nehmen würde.
»Ich hatte letzte Nacht einen Traum.«
»Einen Traum, Meister?«
Der Professor nickte. »Einen Traum, in dem zwei Kinder in den Wald eindrangen.« Die Erinnerung zauberte ein Lächeln auf seine Lippen. »Sie wurden von irgendwelchen Kreaturen
getötet. Ich glaube, es war ein Schwarm Schädelpicker. Oh, du hättest das wundervolle Geräusch hören sollen. Ich habe sie sterben sehen. Ich sah ihnen zu und hörte ihre Schreie und war zufrieden. Als die Kinder tot waren, applaudierte der ganze Wald - die Huldren und Trolle und Pixies und all die andern. Sie applaudierten mir, als hätten sie endlich verstanden, warum ich alles verändern musste. In diesem Moment war ihnen klar, dass ich sie vor allen Menschen beschützen würde. Was natürlich der Wahrheit entspricht. Du siehst also, Schattenhexe, dass nicht einmal deine Dummheit den Wald in Gefahr bringen kann. Denn was könnte im schlimmsten Fall passieren? Dass der Junge das Armband findet und uns einen Besuch abstattet. Wir wissen, dass es die Magie des Lichts nicht mit der Dunkelheit aufnehmen kann. Wahrscheinlicher ist es jedoch, dass er den Wald völlig schutzlos betritt, und dann wäre sein Tod so gewiss wie der Sonnenaufgang.«
»Ja, Meister«, sagte die Hexe und hustete ein
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