Im Schattenwald
Trollvater so traurig, dass eine Träne mitten über seine Stirn kullerte und auf die Nasenspitze tropfte.
»Führen Menschen etwa Kriege miteinander?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Samuel.
Der Trollvater schüttelte ungläubig den Kopf. »Nein, nein, das kann ich nicht glauben. Sie sind doch ganz anders. Haben Sie jemals einen Krieg begonnen?«
Samuel lachte. »Ich bin doch erst zwölf und noch ein Kind. Nur die Oberhäupter großer Staaten treffen solche Entscheidungen. Premierminister, Könige und Präsidenten.«
Es entstand eine Pause. Schließlich fragte der Trollsohn: »Haben Menschen Eltern, Samuel Blink?«
»Was ist das für eine freche, vorlaute Frage!«, wies ihn die Mutter zurecht. »Entschuldigen Sie bitte vielmals … Trolltochter, nimm deinen Finger aus der Augenhöhle, aber sofort!«
»Ist schon in Ordnung«, sagte Samuel. »Ja, wir haben auch Eltern.«
»Haben Sie Eltern, Samuel Blink?«
»Nein, sie … sind gestorben.«
Für eine Weile sagte niemand ein Wort. Dann ließ der Trollvater, der immer noch das Auge hatte, seinen Blick über die steinernen Wände des Hauses schweifen. »Bei uns gibt es ein altes Sprichwort, das heißt: Ein Haus, das aus den Steinen der Vergangenheit besteht, ist ein Geschenk. «
»Oh«, sagte Samuel, der zunächst nicht wusste, wie er das verstehen sollte.
»Es kommt immer darauf an, wie man die Dinge betrachtet«, fuhr der Trollvater fort. »Wenn Sie die Wand dort drüben ansehen, können Sie vermutlich nichts anderes als eine Ansammlung alter Steine erkennen.«
Samuel blickte zur gegenüberliegenden Wand und nickte, denn das war tatsächlich alles, was er erkennen konnte.
»Das ist ganz natürlich. Doch wenn ich die gegenüberliegende Wand betrachte, werde ich von einem Gefühl der Wärme für meinen geliebten Vater ergriffen.«
»Warum?«, fragte Samuel. »Hat er dieses Haus etwa selbst gebaut?«
»Das nicht«, antwortete der Trollvater. »Wissen Sie, was geschieht, wenn Trolle sterben?«
»Nein«, sagte Samuel.
»Ihre Körper verändern allmählich ihre Form und werden zu Stein«, erklärte er nüchtern.
»Stein! Stein! Stein!«, begann die Trolltochter zu singen.
Der Trollvater deutete auf eine andere Wand.
»Das sind meine Großeltern«, sagte er. »Und diese Wand hinter mir ist die Mutter meiner Frau.« Er lächelte entrückt.
»Der Stein war so hart, dass man ihn kaum bearbeiten konnte!«, sagte die Trollmutter lachend. »Sie war im Tod genauso widerspenstig wie zu Lebzeiten.«
Samuel ließ seinen Blick über alle vier Wände wandern und spürte ein eigentümliches Prickeln, als würden die Steine ihnen zusehen.
»Trolle haben von jeher in ihren Familien gelebt«, sagte der Trollvater und nippte an seinem Wein. »Seit Anbeginn der Zeiten. Was geschieht bei Ihnen mit den Toten? Werden sie etwa in der Erde vergraben?«, fragte er amüsiert, als wäre das die lächerlichste Idee, auf die man nur kommen konnte.
»Das werden sie tatsächlich«, antwortete Samuel. Er versuchte, nicht an die hölzernen Särge seiner Eltern zu denken, die in der dunklen Erde lagen.
»Oh, entschuldigen Sie. Das wusste ich nicht.«
»Das macht nichts.«
Der Trollvater klopfte sich an den Kopf. »Aber sie sind hier drin, nicht wahr?«
Samuel nickte.
»Dann müssen Sie dort ihr Haus errichten. Ein Haus der Erinnerungen, das sie jederzeit besuchen können.«
Das Mahl war beendet. Für Samuel und Ibsen war die Zeit des Abschieds gekommen.
»Auf Wiedersehen«, sagte Samuel, der sich das Buch wieder unter den Arm geklemmt hatte. »Und vielen Dank für alles!«
»Auf Wiedersehen«, sagte die Trollmutter. »Und entschuldigen Sie das Benehmen meiner Kinder.«
»Auf Wiedersehen, Samuel Blink«, sagte der Trollsohn. »Samuel Blink. Samuel Blink.«
»Wiedersehen, Wiedersehen, Wiedersehen«, sagte die Trolltochter.
»Passen Sie gut auf sich auf«, sagte der Trollvater.
»Das werde ich«, entgegnete Samuel, der sah, dass ihm alle vier Trolle zuwinkten.
Während er Trollhelm verließ, dachte Samuel an die Worte des Trollvaters.
Ein Haus, das aus den Steinen der Vergangenheit besteht, ist ein Geschenk.
Vielleicht war ebenso viel Trost wie Wahrheit in diesen Worten. Vielleicht waren seine Eltern in gewissem Sinne immer noch am Leben, in seinen und Marthas Gedanken. Und vielleicht würde sich das niemals ändern.
Doch dies allein reichte nicht aus. Denn wie Samuel die Sache sah, waren Erinnerungen nur dann etwas wert, wenn man sie mit jemandem teilen konnte. Und
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