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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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über das Laken und blieb nur wenige Zentimeter von seiner linken Hand entfernt liegen.
    Es starrte ihn an.
    Aber was sollte ein Auge auch sonst tun?

Die Wahrheit über Menschen
    U nter den vier blinden Trollen brach sofort ein lautstarker Tumult aus. Verzweifelt tasteten ihre Hände das Bett und den Fußboden ab - auf der Jagd nach dem verschwundenen Auge.
    »Schaut euch an, was ihr getan habt!«, keifte die Trollmutter, obwohl natürlich keines der beiden Trollkinder in der Lage war, etwas anzuschauen . »Und das alles vor einem Menschen!«
    »Jetzt beruhigt euch wieder«, sagte der Trollvater mit besänftigender Stimme. »Es hat doch keinen Sinn, sich so zu streiten. Irgendwo muss es schließlich sein.«
    Samuel wunderte sich, warum ihn niemand fragte, wo das Auge geblieben war, zumal er der Einzige war, der etwas sehen konnte.
    »Es… ist… hier«, sagte er. »Ganz nahe bei meiner Hand.«
    »Oh, was Sie nicht sagen?«, entgegnete der Trollvater verlegen. »Würden Sie vielleicht die Freundlichkeit besitzen … falls es Ihnen nichts ausmacht … ich meine … könnten Sie sich vorstellen, es … äh … unter Umständen … aufzuheben?«
    »BIST DU VERRÜCKT GEWORDEN? WIE KANNST DU NUR EINEN MENSCHEN UM SO EINEN UN-VERSCHÄMTEN GEFALLEN BITTEN! HAST DU
DENN GAR KEINE SCHAM IM LEIB?«, empörte sich die Trollmutter.
    Für einen Moment schien sie versucht zu sein, auch ihren Mann zu schlagen, doch Samuel hatte für heute genug Gewalt erlebt.
    »Das ist kein Problem«, sagte er. »Natürlich helfe ich Ihnen.«
    Samuel betrachtete den glibberigen Augapfel, dessen grüne Pupille von dünnen roten Äderchen umgeben war. Er streckte die Hand aus, schreckte jedoch davor zurück, ihn anzufassen.
    »Warum starrst du mich so an!«, murmelte er vor sich hin.
    Als seine Hand sich ganz nahe an den Augapfel herangeschoben hatte, schloss er die Augen, um sich nicht auch noch mit ansehen zu müssen, wie er ihn in die Hand nahm.
    »Hier ist es«, sagte er schließlich. »Wer soll es bekommen?«
    »Tja, ich denke, meine Tochter ist an der Reihe«, antwortete der Trollvater zaghaft, wurde jedoch sogleich von seiner Frau unterbrochen.
    »Ich denke, es ist das Beste, wenn Sie es mir geben«, sagte die Trollmutter.
    Sie stapfte Samuel entgegen, der ihr das Auge aushändigte. Sie drückte es an seinen Platz auf der Stirn und zwinkerte ein paarmal, ehe sie zufrieden war.
    »Was für ein hilfsbereiter Mensch!«, sagte sie. »Es tut mir sehr leid, dass meine Kinder sich so aufgeführt haben.«
    »Das ist mir gar nicht aufgefallen«, erwiderte Samuel, der zu den augenlosen Trollkindern hinüberschaute, die einmal mehr vollkommen friedlich nebeneinander saßen.
    »Es ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte die Trollmutter, »auch wenn es sicher nicht der Wahrheit entspricht. Aber
daran sieht man mal wieder, was Menschen doch für perfekte Manieren haben. Meine Kinder dagegen …«
    »Mach sie nicht schlimmer, als sie sind«, sagte der Trollvater.
    »Du bist einfach zu nachsichtig mit ihnen, da liegt das Problem«, entgegnete die Trollmutter. »Mein Vater hätte mich früher zwei Stunden lang gezüchtigt, wenn ich mich nur in meiner Augenhöhle gekratzt hätte. Aber die beiden Racker hier bekommen den Riemen ja höchstens zweimal im Monat zu spüren und dann belässt du es auch noch bei zehn Schlägen. Zehn Schläge! Soll mir mal jemand erklären, was das bringen soll!«
    Samuel schluckte. Vielleicht war es besser, gar keine Eltern zu haben als Trolleltern.
    Nicht einmal Tante Eda schien im Vergleich mit der Trollmutter sonderlich streng zu sein.
    »Warum bleiben Sie nicht einfach zum Abendessen? Ich habe dem Hasen schon das Fell abgezogen. Der wird im Nu fertig sein.« Sie lächelte bei dem Gedanken, einen Menschen persönlich zu bewirten. »Da werden die anderen Dorfbewohner aber Augen machen. Einen richtigen Menschen!«
    Samuel blickte zu Boden und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, obwohl er den Anblick der Trollfüße mit den drei Zehen durchaus gewöhnungsbedürftig fand.
    »Ich muss meine Schwester finden«, sagte er, doch die Trollmutter schien ihm nicht zuzuhören. Stattdessen ging sie in die Küche und begann, den Hasen mit dem blutigen Messer, das Samuel auf dem Tisch gefunden hatte, in Stücke zu schneiden.
    Während die Kinder Ibsen drangsalierten, kam der Trollvater an Samuels Bett und setzte sich neben seine Füße.
    Er lächelte ihn treuherzig an. »Sie hat immer davon geträumt, einmal Besuch von einem Menschen zu

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