Im Schattenwald
Martha war der einzige Mensch auf der Welt, der diese Erinnerungen mit ihm teilte.
Wenn er Martha nicht retten konnte, wäre er wirklich allein.
Der flockende Mond
M artha hatte ihren Bruder nicht gesehen.
Ebenso wie die anderen Gefangenen hatte auch sie keine Ahnung, warum der Wagen angehalten hatte und zwei der Wärter den Hügel hinaufgelaufen waren. Und als wenig später Vjpp und Grentul unverrichteter Dinge wieder zurückkamen, dachte Martha nicht weiter darüber nach.
»Vielleicht haben sie ein Lied einstudiert, das sie uns vorsingen wollen«, schlug der Tomtegubb vor. »Ein Überraschungslied, von dem wir jetzt noch nichts wissen dürfen.«
»Netter Gedanke«, sagte der linke Troll, »aber ich habe da meine Zweifel.«
Mit einem Peitschenknall des Wagenlenkers setzten sich die Pferde, schneller als zuvor, wieder in Bewegung. Die Huldren waren offenbar besorgt, schon zu viel Zeit verloren zu haben. Sie wussten, dass der Veränderer sie erwartete und dass sie wieder in ihrer unterirdischen Behausung sein mussten, ehe die Sonne aufging.
Die Schneehexe ließ sich auf den Boden des Käfigs sinken und schloss die Augen. Ihr Gesicht wirkte in sich gekehrt und konzentriert. Kaum hörbare Worte entwichen ihren Lippen so sanft, dass sie sich sogleich mit der kalten Luft vermischten.
»Was machst du da?«, fragte der linke Troll und schüttelte sie mit der rechten Hand. »Das tut dir nicht gut.«
»Lass sie«, sagte der rechte Troll. »Sie weiß, was sie tut.«
»Schaut mal!« Der Tomtegubb streckte einen Finger aus.
Eine Schneeflocke tanzte unmittelbar vor seinen Augen im Wind, ehe sie durch die Gitterstäbe wieder verschwand. Als Martha und die anderen ihre Köpfe hoben, sahen sie, dass es rings um sie her zu schneien begonnen hatte. Immer dichter fielen die Flocken auf die Erde und bedeckten sie schließlich mit einem weißen Teppich.
»Der Mond ist heute sehr flockig«, sagte der Tomtegubb. So wie alle Tomtegubbs glaubte auch er, der Schnee bestünde aus Mondflocken. »Ist das nicht schön?«
Er begann zu singen:
Kommt ihr Flocken
kommt zu mir
verlasst den Mond
und landet hier
»Sie lässt es schneien«, sagte der linke Troll.
»Seht euch ihr Gesicht an!«, sagte der rechte Troll.
Alle betrachteten das Gesicht der Schneehexe. Die Furchen in ihrer Haut wurden tiefer. Ihre schmalen Lippen waren nur noch ein Strich. Ihre Haare, die bis zu den Fußgelenken reichten, breiteten sich in alle Richtungen aus und bedeckten den Boden des Käfigs.
»Sie altert in rasendem Tempo«, sagte der Tomtegubb. »Sie kann kaum noch atmen.«
»Es ist ein Zauber«, sagte der linke Troll. »Sie lässt die Flocken vom Himmel fallen.«
»Sie flockt den Mond.«
Martha beobachtete, wie die Schneeflocken von den brennenden
Fackeln geschmolzen wurden, und warf einen Blick auf die Erde.
Der Schnee war bereits knöcheltief. Die Wärter schienen besorgt zu sein.
»Enna od kullook?«
»Nit fijoo. Nit fijoo!«
Immer schwerer fiel es den Pferden, den Wagen durch die wachsenden Schneemassen zu ziehen. Der Kutscher schlug mit seiner Peitsche verzweifelt auf die Pferde ein, aber es nutzte nichts. Denn die schmerzhaften Hiebe verliehen ihren Beinen keine neue Kraft.
»Obkenoot!« Grentuls Ruf veranlasste die anderen Huldren, den Wagen anzuschieben.
Das Gesicht der Schneehexe war zu einer einzigen Grimasse geworden. Sie schien schreckliche Schmerzen zu haben, während der Zauber die letzten Lebensgeister aus ihr vertrieb.
Um sie her tobte inzwischen ein regelrechter Schneesturm, der allen die Sicht nahm.
»Wir sollten sie aufhalten!«, rief der linke Troll.
»Lass sie«, sagte der rechte Troll.
»Sie hat Schmerzen.«
»Sie weiß, was sie tut.«
Martha spürte, wie die weißen Haare der Schneehexe, die stetig weiterwuchsen, ihre Fußgelenke kitzelten. Sie betrachtete die alternde Hexe, deren Fingernägel bereits aus dem Käfig herausgewachsen waren. Martha kauerte sich neben der Schneehexe auf den Boden und schüttelte den Kopf.
Die Schneehexe hustete und flüsterte eine Antwort: »Mein Winter ist bereits gekommen, doch dein Sommer wartet noch auf dich. Lass es gut sein, Menschenkind.«
Martha schüttelte erneut den Kopf.
»Du wirst entkommen«, flüsterte die Schneehexe. »Du
wirst deine Sprache wiederfinden. Lass mich jetzt. Es ist besser so.«
Martha blickte aus dem Käfig und sah, wie die Huldren nur mit größter Mühe im knietiefen Schnee vorankamen. Sie schaute nach vorne, wo der Kutscher weiter erbarmungslos
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