Im Schattenwald
Kurz darauf juckte es ihn am ganzen Körper.
Er befühlte sein Gesicht. Weiches Fell wuchs auf seinem
Kinn, seinen Wangen, seiner Stirn. Dann bemerkte er, wie seine Ohren ihre Form veränderten und weit über seinen Kopf hinauswuchsen.
»Es tut mir leid … wir wollten nicht in den Wald.«
Während er sprach, veränderten sich auch sein Mund, seine Zunge und seine Zähne.
»Bitte, ich …«
Bevor er den Satz beenden konnte, war die Verwandlung abgeschlossen. Aus Samuel dem Menschen war etwas anderes geworden.
Kein Vogel, wie seine Schwester, sondern ein Hase.
»Ich kann nicht bei euch bleiben«, sagte die Schattenhexe, während ihr eine schwarze Träne über die zerfurchte Wange lief. Sie nahm wieder die Gestalt eines Raben an, flog zu ihrem Meister zurück und überließ den Hasen und den blau gefiederten Vogel sich selbst.
Im Sack
S amuel der Hase versuchte, Ibsen zu wecken.
»Ibsen, wach auf! Wach auf!«
Keine Reaktion.
Entweder verstand Ibsen keine Hasensprache, oder er schlief so fest, dass er ohnehin nichts hörte.
Der blau gefiederte Vogel saß immer noch auf seinem Ast und schaute ihn an.
»Was willst du?«
Der Vogel antwortete nicht.
Samuel versuchte erneut sein Glück. »Komm schon, Ibsen! Wir müssen Martha finden. Wir müssen zum Veränderer.«
Natürlich hatte Samuel nicht die leiseste Ahnung, was er tun sollte, wenn er dem Veränderer wirklich gegenüberstand. Was sollte ein Hase schon gegen ein Geschöpf ausrichten, das den ganzen Wald tyrannisierte? Und selbst wenn seine Schwester noch lebte - wie sollte sie ihn erkennen?
Er wusste nur, dass er sie finden musste; koste es, was es wolle. Er versuchte ein letztes Mal, Ibsen zu wecken und hoppelte dann den Weg hinunter, während der blau gefiederte Vogel stets neben ihm herflog und jeden seiner Schritte beobachtete.
Den gesamten Nachmittag hindurch versuchte er, sich an den Weg zu erinnern, den der Trollvater ihm verraten hatte, doch ihm wurde rasch klar, dass es ein Hasengehirn mit dem eines Menschen nicht aufnehmen konnte.
Es dauerte nicht lang, bis er jede Orientierung verloren hatte. Als der Nachmittag in den Abend überging, wurde der Wald in ein orangefarbenes Licht getaucht. Zahllose Bäume türmten sich vor ihm auf und schienen kilometerlange Schatten zu werfen.
Dann senkte sich die Dunkelheit wie eine Decke über ihn und nahm die Schatten in sich auf. Mehrere Hasen jagten panisch an ihm vorbei. Sie alle kamen aus der entgegengesetzten Richtung. Einer stoppte direkt vor ihm.
»Sie kommen!«, rief er ihm zu. »Sie kommen!«
»Wer kommt?«
Der Hase hatte keine Zeit zu antworten, sondern sprang direkt auf das Unterholz zu, während Samuel seinem wackelnden Schwanz nachschaute.
Dann nahmen seine sensiblen Ohren ein fernes Geräusch wahr. Irgendjemand kam auf ihn zu. Als das Geräusch sich verstärkte, hörte es sich an wie eine ganze Elefantenherde, und tatsächlich: Als Samuel sich umdrehte, sah er eine Horde von Riesen in einer Reihe auf ihn zutrampeln.
Oh, nein! , dachte er, als ihm aufging, dass er völlig ungeschützt dastand.
Er rannte dem hohen Gras entgegen und versuchte, das Unterholz zu erreichen, in dem der andere Hase verschwunden war. Doch Samuel war zu langsam und hatte noch nicht gelernt, seine vier Beine zu koordinieren.
»Komm schon, du schaffst das!«
Wer war das? Wo kam diese Stimme her?
Dann erblickte er ein Augenpaar im Gras. Es war derselbe Hase, der ihn vorhin gewarnt hatte. Jetzt sprach er ihm Mut zu.
»Hopp! Nimm die Beine in die Hand!«
»Es geht nicht«, sagte Samuel. »Das ist zu ungewohnt für mich.«
»Denk nicht so viel! Sobald du aufhörst zu denken, wird es dir ganz natürlich vorkommen.«
Doch Samuel konnte nicht aufhören zu denken. Er versuchte es ein ums andere Mal, doch sein Gehirn arbeitete weitaus schneller als sein Körper.
»Du musst dich kleiner machen und die Beine ganz von allein … ja, genau … schon viel besser!«
Als Samuel gerade den Eindruck hatte, sich halbwegs wie ein richtiger Hase zu bewegen, riss ihn plötzlich jemand an den Ohren nach oben.
»Hey, was soll denn das?«
Ihm wurde übel, als er sah, wie sich der Boden in rasender Geschwindigkeit von ihm entfernte.
»Hilfe! Bitte! Lass mich los!«
Plötzlich befand er sich Auge in Auge mit dem Riesen, der ihn festhielt.
Nein, das war doch nicht möglich!
Das große Auge, das ihn begeistert anstarrte, saß mitten auf der Stirn über einer enormen, wulstigen Nase.
»Hier hab ich ein Prachtexemplar,
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