Im Schloss der schlafenden Vampire
fiel Helligkeit herein. Laternenlicht.
Die Mädchen entdeckten das Tor
und konnten es etwas zur Seite schieben. Staunend blickten sie auf den Vorplatz
von Schloss Prinzenruh. Die Dämmerung ging über zur Nacht. Hier brannte ein
Dutzend Laternen. Aber im Schloss war kein Licht auszumachen — Dunkelheit
hinter allen Fenstern, jedenfalls was den Westflügel und den mittleren
Gebäudeteil betraf. Den Ostflügel konnten die Mädchen nicht sehen.
„Ich weiß, wo wir sind“,
flüsterte Lena. „Am Schloss!“
Sie waren oft hier gewesen mit
ihren Eltern, aber noch nie nach Anbruch der Dunkelheit.
„Wir müssen dorthin!“ Lena wies
über den Vorplatz. „Und dann dorthin! Dort ist die Straße. Auf der laufen wir
zum Dorf. Das ist nicht sehr weit.“
„Ist es da dunkel?“
„Wenn wir auf der Straße
bleiben, können wir uns nicht verirren.“
„Aber hier sind Gespenster.“
Auch Lena hatte davon gehört.
Unter den Kindern im Dorf galt Prinzenruh als Spukschloss. Manche Jungs
erzählten gruselige Geschichten: von Gespenstern, die hier hausten, von
Monstern in den geheimen Zimmern des Schlosses. Einige Bengel behaupteten
sogar, sie hätten in Vollmondnächten den Schlossgeist gesehen — eine schaurige
Erscheinung ohne Gesicht, aber eingehüllt in eine muffige Kutte. Angeblich war
das ein Mönch, der vor Jahrhunderten hier gelebt hatte und wegen eines Fluchs
auch nach seinem Tode keine Ruhe fand. Seinen Namen hatte man vergessen. Im
Dorf hieß er ,der Mönch ohne Gesicht’.
„Wir laufen jetzt ganz schnell
über den Platz und zur Straße“, flüsterte Lena. „Nicht zurückbleiben, Tina.“
Sie fetzten los. Tina
stolperte, fiel aber nicht. Über den Platz! Dort war die Straße. Lena bekam
sofort Seitenstechen. Sonst lief sie nie so schnell. Außerdem atmete sie
falsch, atmete vor Angst durch den Mund — statt durch die Nase. Lena musste
stehen bleiben — und das war ihr Glück.
Sie befanden sich nahe der
ehemaligen Orangerie. Tina war gegen ihre Schwester geprallt und hätte fast
aufgeschrien. Beide standen außerhalb des Lichtkreises, keuchten und zitterten.
Und beide hörten die Schritte.
Harte Schritte auf der
asphaltierten Straße. Schritte, die durch die anbrechende Nacht hallten. Um die
Laternen schwirrten Fledermäuse. Eben wurde eine dicke Motte gefangen. Lena
bemerkte das — und auch den Mann, der jetzt das Ende der Zubringerstraße
erreicht hatte und unter den Bäumen hervortrat.
Es war ihr Entführer. Der
hässliche Kerl mit dem breiten Quetschkopf. Der übelste Typ der Welt — wie die
beiden meinten.
Er blieb stehen und spähte zum
Schloss.
Lautlos zog Lena ihre Schwester
tiefer in die Dunkelheit.
Er sah nicht her, bemerkte die
beiden nicht, kramte in der Hosentasche, grunzte leise.
Jetzt waren die beiden hinter
der Orangerie, atemlos vor Aufregung und schaudernd vor dem, was kommen musste.
Würde er in den Keller steigen und nach ihnen sehen? Entdeckte er jetzt gleich,
dass sie entkommen waren?
Ja, er wandte sich in ihre
Richtung.
Die Mädchen lugten um die Ecke
der Orangerie. Dann flohen sie in die andere Richtung, liefen hinter dem
Marstall westwärts, mieden das Wäldchen, in dem bei Dunkelheit ohnehin kein
Durchkommen war, umrundeten in ihrer Panik das Schloss auf der Seeseite und
stolperten dann über den versteppten Boden auf der Rückfront in Richtung Moor.
Wenig später hatten sie die Orientierung verloren. Tina schluchzte ohne
Unterlass. Auch Lena war zum Weinen zu Mute, denn sie wusste nicht mehr, wo sie
sich befanden.
Ringsum war Dunkelheit. Keine
Sterne, der Nachthimmel mit Wolken verhangen. In der Nähe schrie ein
Nachtvogel. Das Moor wisperte. Waren da Tiere? Der Boden schmatzte, als würden
Hufe aus sumpfigem Untergrund gezogen. Die Mädchen zitterten.
„Da... sind Irrlichter“,
schluchzte Tina. „Blaue Irrlichter.“
„Wir müssen dort entlang“,
Lenas Stimmchen war kaum zu hören. „Dort geht es ums Schloss herum und zum
Dorf.“
„Aber der Mann!“
„Der ist jetzt auf der anderen
Seite. Ist im Keller und ärgert sich. Hihihihih!“
Es sollte ein Lachen sein,
klang aber wie Weinen.
Lena nahm ihre Schwester wieder
an die Hand und zog sie mit — in die falsche Richtung. Jeder Schritt führte die
Mädchen tiefer ins Moor. Der Boden schwappte. Es roch nach Torf und schweren
Blüten. Gräser strichen den Mädchen über die nackten Beine. Die leichte
Kleidung war plötzlich viel zu dünn, denn die Nacht schien von Sekunde zu
Sekunde kälter zu
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