Im Sommer der Sturme
schloss er, dass sie sehr genau zwischen Gut und Böse unterscheiden konnte. Bereits nach dem ersten Treffen war er sicher, dass er die richtige Gesellschaft für seine Frau gefunden hatte. Vielleicht konnte ihr das Mädchen sogar die Tochter sein, die sie nie gehabt hatte.
Es dauerte keine zwei Wochen, bis alles abgemacht war und Charmaine Ryan ihr altes Leben zurückließ und ein neues begann. Mit all ihren Habseligkeiten zog sie in das hübsche, weiß verputzte Haus der Harringtons, das im Villenviertel von Richmond lag, wo sie die Woche über lebte. Ihre Eltern besuchte sie nur noch an den Wochenenden.
Dass ihre Mutter von nun an ganz allein für sich sorgen musste, war das Einzige, was Charmaine auch weiterhin bedrückte. Aber Marie verbrachte mehr und mehr Zeit in St. Jude, fand Trost in ihrer Arbeit und war froh und glücklich, wenn sie sich die Sorgen fremder Menschen anhören konnte. Als ihre Mutter an einem Wochenende ungewöhnlich schweigsam war, vermutete Charmaine, dass etwas Marie bedrückte, doch die gab keine Einzelheiten preis. »Ich habe immer gedacht, dass nur die Armen leiden. Aber das war ein Irrtum. Vielleicht gilt ja sogar der Satz: Je größer der Reichtum, desto tiefer der Schmerz.«
Es dauerte keinen Monat, bis John Ryan der »Wohltätigkeitsarbeit« von Charmaine einen Riegel vorschieben wollte. Doch Charmaine war entschlossen, seine Pläne zu durchkreuzen. Sie dankte dem Himmel, dass ihr Lohn höher war, als ihr Vater erwartet hatte, und dass sie so schlau gewesen war, heimlich die Hälfte davon zu sparen. In dieser bedrohlichen Lage bestand sie darauf, dass ihre Mutter das Geld annahm. »Mach ihm weis, dass die Kirche deine Arbeit bezahlt«, riet sie ihr in verschwörerischem Ton. »Dann wird er einverstanden sein, dass du auch weiterhin dort arbeitest.« Und so war es. Kaum dass die Münzen in seiner Hand klimperten, verstummten die Beschwerden.
Unter dem Dach der Harringtons fühlte Charmaine sich geborgen und konnte aufatmen. Mr. Harrington behan delte seine Frau mit Respekt und Bewunderung. So wie er sollten eigentlich alle Männer sein, dachte Charmaine. Entsprechend treu ergeben war ihm seine Frau. Nie kam ein hartes Wort über ihre Lippen, und unter ihrer Zuneigung und Fürsorge blühte Charmaine sichtlich auf.
»Für mich bist du weit mehr als nur eine Gefährtin«, hatte Loretta noch vor Ablauf des ersten Jahres zu Charmaine gesagt. »Für mich gehörst du zu unserer Familie.«
Charmaine glaubte das von Tag zu Tag mehr. Doch wenn die Söhne zu Besuch kamen, bedrückte es sie, den liebevollen Umgang zwischen den Männern und ihren Frauen, zwischen Kindern und Eltern und Vätern und Töchtern zu beobachten. Obwohl sie wie selbstverständlich dazugehörte, fühlte sie sich fremd. Solange ihre Eltern lebten und sie daran erinnerten, wer sie war, gehörte sie nicht wirklich zu dieser liebenvollen Familie.
Zwei Jahre lang verschwieg Charmaine den Harringtons ihre Herkunft, weil sie fürchtete, ihre Sachen packen zu müssen, wenn alles ans Licht kam. Marie Ryan war zwar eine Seele von Mensch, aber nichtsdestotrotz war sie nur eine Waise, deren einziges Glück im Leben darin bestanden hatte, vor dem Waisenhaus von St. Jude aufgefunden und in diesem Haus erzogen worden zu sein. Maries Eltern waren vermutlich um kein Haar besser als die Eltern ihres Mannes – und für die vornehmen Bürger von Richmond zählte John Ryan zu dem weißen Abschaum.
Loretta und Joshua Harrington fragten sich oft, warum Charmaine nach den Tagen, die sie bei ihrer Familie verbrachte, so nachdenklich und schweigsam war. Sie spürten, dass Charmaine litt, doch sie wollten dem Mädchen Zeit geben, um ihre Scheu zu überwinden. Aber die Zeit war nicht auf Charmaines Seite.
An einem Wochenende herrschte John Ryan seine Tochter plötzlich an: »Du arbeitest jetzt seit zwei Jahren für die Harringtons. Wann zahlen die dir denn endlich mehr Lohn?«
Charmaines Lohn war längst erhöht worden, doch da sie das Geld nach wie vor mit ihrer Mutter teilte, hatte sie den zusätzlichen Betrag für sich selbst gespart.
»Ich werde mit ihnen reden«, versprach Charmaine, ohne lange nachzudenken, was ihren Vater zu beruhigen schien.
Aber dem war nicht so, denn die Antwort hatte sein Misstrauen geweckt. Fast eine Woche lang dachte John Ryan nach, und am Freitagabend beschloss er, der Sache auf den Grund zu gehen. Mit einer Flasche Whisky trank er sich Mut an, bevor er auf unsicheren Beinen zum Haus der Harringtons
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