Im Sommer der Sturme
Mutter sehr vermissen. Falls du jemals in Not gerätst, dann zögere nicht und komm zu mir.«
»Ich habe große Hoffnung, dass es mir in Zukunft gutgeht. Die Harringtons haben mir angeboten, für immer bei ihnen zu bleiben. Trotzdem danke ich Ihnen für Ihr Angebot.«
Die erste Woche ging ins Land, dann eine weitere und schließlich die dritte – und dementsprechend stieg die Gewissheit, dass sich John Ryan nicht mehr in Richmond aufhielt. Und falls doch, so hatte er ein gutes Versteck ausfindig gemacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass er für das grausame Verbrechen bezahlen musste, wurde von Tag zu Tag geringer. Charmaine lag Nacht für Nacht wach und fürchtete, dass ihr Vater ihr auflauern könnte. Obgleich die Harringtons versicherten, dass John Ryan es nie mehr wagen würde, sich zu zeigen, ängstigte sich Charmaine vor jedem Schatten, sobald sie in der Stadt unterwegs war. Lauerte ihr Vater womöglich in einem Hauseingang oder irgendwo zwischen den Häusern und beobachtete sie? Um ihre Ängste zu bekämpfen, betete sie für ihre Mutter, denn sie war überzeugt, dass Marie im Paradies endlich Frieden gefunden hatte und von oben heruntersah und über ihre Tochter wachte.
Ein Jahr ging ins Land, und allmählich wurde Charmaine ruhiger. Inzwischen war sie Loretta wie eine Tochter ans Herz gewachsen. Seit die Harringtons die Wahrheit über Charmaines Herkunft kannten, liebten sie das Mädchen nur noch mehr.
Voll Eifer nahm Loretta Charmaine unter ihre Fittiche und beschloss, eine elegante Lady aus ihr zu machen. Eine bessere Stellung in der Gesellschaft zu erlangen, das wäre dem Selbstbewusstsein des Mädchens sicher förderlich. Loretta waren gute Manieren überaus wichtig, also musste Charmaine nur dem Beispiel von Loretta folgen – und schon wurden ihr freundliches und würdevolles Benehmen von ganz allein zur zweiten Natur. Ergänzend zu der Schulbildung, die Charmaine in St. Jude erworben hatte, machte Loretta das junge Mädchen mit Literatur, Musik und den schönen Künsten bekannt. Charmaine lernte tanzen und nähen und verbrachte zusammen mit ihrer Lehrmeisterin so manche Stunde am knisternden Kaminfeuer und stickte.
Am besten gefiel Charmaine jedoch der Musikunterricht, wo sie es durch fleißiges Üben am Pianoforte sogar zu einer gewissen Meisterschaft brachte. Dabei unterstützten nicht nur die Melodien ihren Eifer, sondern ebenso das Glücksgefühl, das sie jedes Mal durchflutete, wenn sie eine besonders schwierige Stelle gemeistert hatte. Charmaines Fortschritte blieben nicht unbemerkt, und eines schönen Tages überraschte Mr. Harrington das Mädchen und seine Frau mit einem außergewöhnlichen Geschenk – und zwar mit einem »verbesserten« Pianoforte, einem sogenannten Piano, das man als Erfindung des Jahrhunderts bezeichnete. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger verfügte dieses Instrument über zusätzliche Oktaven und eine tiefere und weichere Resonanz. Loretta war in ihrem Element, und Charmaine ließ sich anstecken und vervollkommnete ihre Fertigkeiten. Mit der Zeit konnte sie sich sogar zu ersten Erfolgen gratulieren, denn jedes Mal, wenn die Söhne der Harringtons mit ihren Familien zu Besuch kamen, scharten sich die Kinder um das Piano und verlangten, dass sie ihnen etwas vorspielte.
Charmaine freute sich auf diese Besuche, auch wenn sie jedes Mal gewisse Sehnsüchte in ihr weckten. Als gute Beobachterin erspürte Loretta, dass Charmaine sich um ihr zukünftiges Leben Gedanken machte. »Sie braucht einen Mann«, erklärte sie deshalb eines Abends, als sie mit ihrem Mann allein war. »Siehst du denn nicht, wie sehnsüchtig sie unsere Jungen und die Kinder ansieht?« Als Joshua schnaubte, spann sie den Faden weiter: »Wenn doch wenigstens einer unserer Söhne noch nicht verheiratet wäre …«
Von diesem Tag an lud Loretta ständig junge Männer in ihr Haus ein, doch keiner von ihnen konnte Charmaines Aufmerksamkeit fesseln. Loretta war überzeugt, dass ihre Absichten unbemerkt geblieben waren, doch eines schönen Tages machte Charmaine dem Versteckspiel ein Ende. »Mrs. Harrington, ich habe kein Interesse an den jungen Männern, die Sie mir zuliebe einladen.« Loretta spielte die Unschuldige, doch Charmaine ließ sich nicht beirren. »Ich glaube nicht, dass ich jemals heiraten werde. Jedenfalls möchte ich nie so leben wie meine arme Mutter.«
Loretta war äußerst ungehalten. »Aber Charmaine, es sind doch nicht alle Männer so wie dein Vater. Denk nur an Joshua. Er ist ein
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