Im Sommer der Sturme
erleuchteten Innenhofs. Das Klappern ihrer Absätze hallte von den Mauern wider. Trotz der vielen Jahre, die sie im Waisenhaus von St. Jude im Herzen von Richmond, Virginia, gelebt hatte, hatte sie sich nicht den leichtfüßigen Gang der Schwestern angeeignet, mit dem diese Tag für Tag auf leisen Sohlen über das Pflaster zur Andacht eilten.
Marie kam zu spät, und das, obwohl die Unterredung nur für sie anberaumt worden war. Doch mit dem heutigen Abend waren alle Pläne ohnehin hinfällig. Sie würde das Waisenhaus nie mehr verlassen. Dieses Heim war ihr Zuhause und ihre Zuflucht. Der Ort, wo sie hingehörte. Weder die Drohungen ihres Mannes noch ihre eigene, von einem schweren Schicksal geprägte Vergangenheit würden sie je wieder aus der Geborgenheit dieser Mauern vertreiben. An diesem Abend hatte sie ein Zeichen empfangen.
Seit man sie vor dreißig Jahren als kleines Kind auf den Stufen von St. Jude ausgesetzt hatte, hatte Gott keine Mühe gescheut, um sie als seine Dienerin zu gewinnen. Aber während der letzten sechzehn Jahre hatte sie sich nicht mehr um ihn geschert. Doch von nun an würde sich das ändern. Von heute Abend an wollte sie ihm folgen. Das Leben außerhalb der Kirchenmauern konnte sie nicht länger mit leeren Versprechungen locken. Die wahre Welt umfasste zwei völlig unterschiedliche Arten von Menschen, die jedoch voneinander abhängig waren: und zwar diejenigen, die unter dem Leben und seinen Zerrbildern litten, und diejenigen, die dem Leben zu Diensten waren. Heute Abend wollte sie Ersteren aus dem Weg gehen und die Letzteren umarmen. Ihre Buße war abgeleistet.
Marie betrat das Pfarrhaus und grüßte die wartenden Personen mit zögerlichem Nicken: Sister Elizabeth, Father Michael Andrews und Joshua Harrington. Letzterer war ein älterer Gentleman und wohlhabender Geschäftsmann, der nach einer passenden Gesellschafterin für seine Ehefrau suchte. Nachdem die fünf Söhne geheiratet hatten und fortgezogen waren, litt Loretta Harrington unter der Leere zu Hause.
»Halten Sie mich bitte nicht für undankbar, Mr. Harrington«, entschuldigte sich Marie, nachdem sie einander vorgestellt worden waren, »doch ich fürchte, ich habe meine Meinung inzwischen geändert.«
Father Andrews stand wie vom Donner gerührt da. Die junge Frau hatte größtes Interesse an dieser Stellung im Haus der Harringtons bekundet und ihn gebeten, die Unterredung für sie zu organisieren. Außerdem wäre der ansehnliche Lohn ein wahrer Segen für sie. »Ist etwas geschehen, Marie?«
Sie zögerte. »Ich habe endlich begriffen, dass ich hierher gehöre. Hierher in dieses Haus. Ja, ich weiß, ich habe ein eigenes Zuhause, aber ich will mich in Zukunft hier in St. Jude um alle kümmern, die mich wirklich brauchen.«
Der Pastor staunte immer mehr. Obgleich Maries Tochter Charmaine die Elementarschule von Sister Elizabeth in St. Jude besuchte, überschritt Marie die Schwelle der Kirche so gut wie nie. »Aber dein Mann …«, begann er.
»… wird es verstehen müssen«, antwortete Marie.
»Ich bin ja nicht einmal sicher, ob ich es verstehe. Ich dachte, du bräuchtest diese Stellung.«
Marie seufzte. »Heute Abend war ein Mann in der Kirche. Er war krank.«
»Wieder so ein Bettler«, spottete Father Michael in ungewöhnlich hartem Ton.
»Nein, kein Bettler«, widersprach Marie und wunderte sich über seine barsche Reaktion. »Der Mann war vornehm gekleidet, und doch befand er sich in einem bedauernswerten Zustand: Er war ohnmächtig. Ich glaube, er hat sich den Kopf an einer der Bänke angeschlagen. Ich ließ ihn von Matthew in den Aufenthaltsraum bringen und blieb bei ihm, bis er aufwachte. Ich fürchte, er hat viel durchgemacht. Und das nicht nur äußerlich. Ich möchte, dass Sie sich um ihn kümmern, Father.«
»Ich begreife trotzdem nicht, wie dich dieser Fremde zu einem solchen Sinneswandel bewegen konnte.«
»Es war etwas, das er gesagt hat«, erwiderte Marie mit einer gewissen Zurückhaltung. »Ich glaube, dass Gott ihn nicht nur nach St. Jude, sondern direkt zu mir geschickt hat, um mir zu zeigen, wo ich wirklich gebraucht werde. Wohin ich gehöre. Ich entschuldige mich noch einmal ganz ausdrücklich, Mr. Harrington. Ich hätte Sie nicht so lange von Ihrer Frau fernhalten dürfen. Doch ich hoffe, Sie verstehen, dass ich hier in St. Jude bleiben muss.«
Father Michael Andrews lächelte Marie an. Sechzehn lange Jahre hatte er ihre Gegenwart vermissen müssen. Doch heute Abend war sie zurückgekehrt.
John
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