Im Sommer sterben (German Edition)
natürlich auch«, fügte er hinzu. »Für mich schien es, als hätte er all das nur angezettelt, weil ich es verurteilte und weil ich es selbst nie getan hatte. Es war der hilflose Versuch, früher da zu sein als ich.«
Eschenbach überlegte, ob er es als Bruder auch so sehen würde. Er hatte keine Geschwister.
»Und als ich begann, mich nicht mehr zu ärgern – als mir meine nächtlichen Besuche auf der Polizeiwache nicht mehr peinlich waren, weil sie wie das Benutzen von Zahnseide zu einem Teil meines Alltags wurden –, von diesem Moment an hörte Philipp damit auf. Es hatte den Reiz verloren.« Johannes Bettlach lächelte. »Aber ich denke, das ist normal unter Brüdern, denn später verstanden wir uns wieder und wurden Freunde.«
Die Art, wie Johannes Bettlach über seinen Bruder sprach, war erstaunlich, fand Eschenbach. Es schien ihm weder oberflächlich noch einseitig zu sein. Es war distanziert und dennoch liebevoll, warm und trotzdem hatte es Konturen, Ecken und Kanten. Es war traurig und froh zugleich. Eschenbach war, als spräche eine Mutter über das Kind, das ihr am meisten ans Herz gewachsen war – weil es anders, vielleicht auch schwieriger war als alle anderen.
»Es ist nicht viel, ich weiß. Keine Anhaltspunkte, die Ihnen weiterhelfen …« Bettlach fuhr sich mit der Hand durchs Haar, wandte sich Eschenbach zu und sah ihn mit seinen blauen Augen an.
»Ein Anfang … es ist ein Anfang«, räusperte sich Eschenbach, der über das Gesagte nachdachte. Es war ihm aufgefallen, dass Johannes Bettlach viel über die Kindheit und Jugend seines Bruders erzählt, die letzten Jahre aber kaum erwähnt hatte. Eine Eigenart, die Eschenbach bei alten Menschen immer wieder beobachtete. Philipp Bettlach war laut Bericht sechsundfünfzig, da musste es noch anderes geben als jugendliche Rebellion und Freundschaft.
»Können Sie mir etwas über die familiären Verhältnisse Ihres Bruders sagen? Mit wem lebte er zusammen, hat er Kinder?«
»Nein«, kam es trocken von Bettlach. Und etwas zögerlich: »Verheiratet war er einmal … das ist allerdings schon über zwanzig Jahre her. Eveline hieß sie. Ein nettes Mädchen … aber die beiden passten nicht zueinander. Ein Jahr später waren sie wieder getrennt. Seither lebte er allein.« Wieder zögerte er. Dann fügte er noch hinzu: »Mit wechselnden Bekanntschaften.« Bettlach lächelte. »Aber das ist … das war seine Angelegenheit. Ich hab mich da nicht eingemischt.«
»Und gearbeitet hat er bei Ihnen, hier in der Bank?«, wollte Eschenbach wissen.
»Ja. Er war Leiter der Marketingabteilung und kümmerte sich um unsere ausländischen Kunden. Er war sehr beliebt.«
In diesem Moment klopfte es kurz, die Tür ging auf und die schlanke Dame, die Zettel und Kaffee serviert hatte, stand vor ihnen.
»Herr Trondtheim ist hier und möchte Sie sprechen«, sagte sie zu Bettlach.
»Ich würde noch gerne einen Blick auf Philipps Arbeitsplatz werfen«, sagte Eschenbach. »Und seine engsten Mitarbeiter kennen lernen.«
»Kein Problem. Frau Saladin wird Ihnen alles zeigen.«
Der Kommissar packte sein Diktiergerät in die Seitentasche seiner Jacke und stand auf. »Und wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann können Sie mich jederzeit hier erreichen …« Er gab Johannes Bettlach seine Karte, auf der Adresse und Telefonnummer des Präsidiums vermerkt waren. »Hinten drauf … das ist meine Handynummer«, fügte Eschenbach hinzu.
Johannes Bettlach betrachtete die siebenstellige Nummer, die in schwungvoller Handschrift auf der Rückseite der Karte stand.
»Sie können gleich mit mir nach unten kommen, Herr Kommissar«, sagte die Dame in liebenswürdigem Ton, wobei die Vokale wie gewalzter Kuchenteig endlos in die Breite gingen. Sie hätte den Satz ebenso singen können.
»Von Basel?«, fragte er.
»Hejoo«, sagte sie. »Merkt man es?«
Es war keine Frage – es war ein Triumph.
Der Kommissar drehte sich noch einmal um. Er wollte sich von Bettlach verabschieden.
Dieser hatte das Fenster einen Spaltbreit geöffnet, hielt für einen kurzen Moment inne, die linke Hand in der Hosentasche, die rechte am Fensterknauf. Dann kam er auf den Kommissar zu, streckte ihm seine Hand entgegen, zuerst die rechte, dann auch die linke; und die beiden Männer verabschiedeten sich so, wie sie sich begrüßt hatten.
Eschenbach sah die Altersflecke auf Bettlachs Händen und die Schwermut in seinen Augen. Trotz der Sonne, trotz der Wärme der Geste und der Freundlichkeit der Stimme; er
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