Im Stein
aufgefaltete Zeitung fällt von seinen Knien. Lag die nicht eben schon im Dreck? 9. 11. 1996. »Regierungsumzug: Goldene Brücken nach Berlin«. Samstag. Er blickt auf die Uhr. Sie müssten gleich da sein. Er darf nicht vergessen, nach den Lottozahlen zu schauen. Ist so eine Marotte von ihm. Jeden Samstag einen Schein. Acht Zahlen. Vollsystem. Mit ein paar Millionen könnte er die Brauerei kaufen, drüben in Baden-Württemberg. Ohne Verluste zu machen. Der Wald ist fast abgeholzt. Draußen ist es dunkel. Geht schnell jetzt im Herbst. Er sieht sein Gesicht in der Scheibe. Schräg gegenüber ein kleiner dicker Mann mit Hut. Den sieht er auch in der Scheibe. Der scheint zu schlafen, den Kopf auf der Brust, die Hände überm Bauch gefaltet. Sein eigenes Gesicht hager und weiß. Graue Haare. Was sagen seine Augen? Blau. Kalt. Das gefällt ihm. Keine Informationen mehr. Er ist der Highlander auf seinem Weg durch die Zeit. Die Frau, die ihm nie fehlt, weit weg. Geht keinen was an. Muss er bald mal klären. Sieht er mal so und mal so. Die Burg und die Anteile an den anderen Enden der Welt. Somewhere over the rainbow. Ist das ein Fluss, auf dem sich die Lichter spiegeln?, und eine Straße neben dem Fluss. Sonst nur Felder. Oder Wiesen. Oder Steppen. Lautsprecherstimmen. Ich habe immer erfunden, wenn es sein musste. Ich bin der Mann ohne Vergangenheit. Nur das Geld und der Einfluss erzählen die wichtigen und richtigen Geschichten. Ich bin von weit her gekommen (also nach deutschem Maßstab), und wir wollen …, was wollen wir eigentlich an der Grenze? Geschäfte, mein alter Freund, Geschäfte. Und halt deine Augen klar wie zwei Monde im Winter, aber immer drauf achten … Weiß ich doch, weiß ich doch.
Er holt sein Brillenetui aus der Manteltasche, da fahren sie schon ein, kleiner Bahnhof, überdachte Bahnsteige, Endstation. Fließende Tönung. Oben mehr, unten weniger. Er ist kurzsichtig. Minus eins Komma acht. Links eins Komma neun. Minus. Irgendein Zylinder auch noch. Spezieller Wert. Die Augen werden schlechter und vertragen das Licht auch immer schlechter. Jahrelange Nachtarbeit. Leben unter der Erde. Sagt sein Arzt. Leichte Tönung. Gut für die Augen. Sagt sein Arzt. Weil die immer öfter entzündet waren. Rot. Wie Bindehautentzündung. Ist aber die Lichtempfindlichkeit. Die Augen gut geschützt hinterm blassen Blau der Tönung. Bevor er aussteigt, weckt er den Dicken mit dem Hut. »Endstation, Meister!«
»Wer? Was? Sind wir schon in Polen? Danke!« Der Dicke schreit ihn an, als wäre er aus irgendeinem bösen Traum erwacht. Er rückt seinen Schal zurecht und die Brille, nimmt seinen Lederkoffer und betritt den Bahnsteig. Die Brille hat er sich vor anderthalb Jahren in der Stadt machen lassen, bei Fielmann. Modell Porsche.
Er steht direkt unter einer Laterne, und die Brille tut ihm gut. Keiner am Bahnsteig. Sie wissen, wann er kommt. Ein paar Gleise, halbüberdacht, der Wind fährt ihm in die Haare. Wenig Licht. Müll unter den Bänken. Weiter vorne am Zug wird die Frau mit dem Kinderwagen abgeholt. Ein großer Kerl in Bullenuniform. Oder Grenzer. So genau kann er das nicht erkennen. Ankunft. Nichts mehr privat. Was für ein schäbiger Bahnhof, denkt er. Wie auf einem Dorf. Man merkt, dass die Russen und Polen nicht weit sind. Auf dem Gleis gegenüber steht eine schmutzige dunkelrote Lok ohne Hänger, ohne Zug. Ein Mann im blauen Kittel lehnt sich aus dem kleinen Fenster der Lok und raucht.
Er geht Richtung Treppe, holt sein Zigarettenetui aus der Manteltasche, nur noch drei Kippen hinterm Gummiband. Aber er hat noch zwei Schachteln Davidoff in seinem Koffer. Vor ihm ein gelber Fahrplan in einem Kasten hinter Glas. Ehemals hinter Glas. Das Glas zerschlagen, der Fahrplan beschmiert, leere Bierbüchsen und Kippen auf der breiten Unterkante des Kastens. Glasscherben knirschen unter seinen Schuhen. Er will wegen der Rückfahrt schauen, lässt es aber dann. Rings um die Gleise die Nacht. Er geht die Treppe runter, die Zigarette auf Brusthöhe. Er steht in einem dunklen Tunnel, der nach Pisse stinkt. Neben den Treppenaufgängen Kästen mit gelben Fahrplänen. Mit Glas. Ohne Glas. Er steht im Tunnel von Gütersloh. Er steht im Tunnel von Neuss. Iserlohn. Die Pisse stinkt. Das Glas knirscht. Die Mülleimer hängen schief in ihrer Verankerung. Grauer Nebel zieht durch diese Bahnhöfe, er kennt den Geruch. Ihm ist, als würden die Jahre ineinanderfließen, gelbe Fahrpläne, schmutzige Loks, leere Bierdosen, nachts
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