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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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jetzt noch größer und zerrissener erschien … »Mondauge«, sagte er, »wir leben in seltsamen Zeiten.«
    »Die Zeiten sind doch immer seltsam. So oder so. Weißt du, dass mich nur noch meine Alte so nennt.«
    »Ich denke manchmal, wir sollten alle unseren Kram packen und nach Südamerika verschwinden.«
    »Und den mongolischen Heerscharen das Feld überlassen?«
    »Hast schon recht, Mondauge. Was wären die Weiber ohne uns …«
    »Nichts, mein Freund, nichts. Sie würden weinen. Wie die Bullen. Und wie das Finanzamt.«
    Als er in den Zug steigt, ist ihm kurz schwindlig. Eine Sekunde nur, oder noch kürzer, setzt etwas aus in ihm, in seinem Kopf, als wäre das System kurz unterbrochen, ein schwarzer, nein, ein weißer Fleck, ein Sekundenbruchteil Nichts. Dann ist er wieder da, hält sich am Haltegriff neben der Tür fest, spürt, dass jemand hinter ihm steht, spürt, wie er diesen Jemand kurz berührt, bevor er in den Waggon steigt. Er reißt die Schiebetür auf und setzt sich auf den ersten freien Platz. Der Koffer steht zwischen seinen Füßen. Sein Herz schlägt normal. Alles in Ordnung. Bumm. Bumm. Bumm. Der Bahnsteig ist leer, das Fenster schmutzig. Ein paar Leute laufen an ihm vorbei. Dann fährt der Zug schon an. Ruckelt. Hält kurz. Fährt wieder. Er nimmt die Zeitung aus seiner Manteltasche, legt sie auf den kleinen Tisch unterm Fenster.
    Ihm fällt ein, dass er eine 1.-Klasse-Fahrkarte gekauft hat. Später, als der Schaffner kommt und ihn darauf hinweist, sagt er: »Sitzt sich gut hier«, das klingt komisch, er merkt das, der Schaffner nickt und geht weiter. Er hat keine Lust aufzustehen. Er ist ein wenig müde. Sie fahren durch einen Regen, er sieht die Wälder verschwommen, Dörfer, der Zug hält oft. Hat auch in Berlin noch oft gehalten. Viele Baustellen dort. Große Kräne hinter den Häusern. Baugruben direkt neben dem Bahndamm. Halbfertige Burgen aus Glas. Man hätte in Baufirmen investieren können, denkt er, wenn man dumm gewesen wäre. Besser in Bauland, aber auch das hätte schiefgehen können, heute eine Million, morgen Hunderttausend. Auch in der Stadt im Osten, seiner neuen Dependance, bauten sie wie die Irren. Das Grau dort verschwand und verschwindet langsam. Die Banken schmissen mit Krediten um sich. Aber als die Luft aus dem großen Immobilien-Paten, der die halbe Stadt gekauft hatte, rauspfiff wie ein gewaltiger Furz und die Banken ihn fallenließen bis ganz nach unten in den Knast, und das war ja auch ein Gestank!, da war er froh, dass er nicht in eine Baufirma investiert hat in der Stadt im Osten und in kein Grundstück in der goldenen Mitte. Er hat gewusst, dass die Dinge so laufen würden. Treibsandprinzip. Domino-Day. Und er hat früh genug und in die richtigen Objekte investiert, und die Preise und der Preisverfall im Stadtzentrum haben den Markt reguliert, so wie er es gebraucht hat. Am Rand der Stadt. Bauland. Autobahnauffahrt, Autobahnabfahrt. Die Burg. Große Sache. Hat Kraft und Zeit und Geld gekostet. Kredite hat er auch bekommen. Er hat einen guten Ruf. Hat mit seinen Leuten in Bielefeld gebaut, vor Jahren und Jahrzehnten schon in Neuss investiert, hat Anteile und Prozente in Frankfurt/Main und anderswo, und gar keine schlechten. Und mit einer eigenen Baufirma ist man immer drauf angewiesen, dass man die richtigen Aufträge bekommt und mit den richtigen Leuten dealt. Das wäre schon machbar gewesen. Mit oder ohne Paten. Das neue Land ist groß genug. Aber letztendlich doch nur Peanuts. Nur die Sehnsucht nach was Solidem, die jeder manchmal hat, der das endlose Fließen des Geldes und des Marktes fast schmerzhaft spürt nach all den Jahren. Baggerträumereien. So wie er mit seinem Bruder kleine Häuser baute im Wald, aus Holz und Stein und Lehm. Hat er oft drüber nachgedacht und sich erinnert. Aber er ist der Mann mit dem Plan. Der die Aufträge in Auftrag gibt. Der die Nase hat und die Gelder verwaltet und investiert. Sein Bruder. Seine Leute. Die Gesellschaft im Hintergrund. Die stillen Teilhaber. Seine Firma. Aktie Rotlicht. Und jetzt die Grenze.
    »Groß zu sein zahlt sich aus.« Das hatte er selbst gesagt. »Je größer die Firma, umso besser der Profit. Think big, wie unsere Freunde aus der Wirtschaft sagen.«
    Das muss vor zwei, drei Jahren gewesen sein. Er hatte immer solche Sprüche drauf, um die Leute zu beeindrucken. Er war der Mann mit dem Plan. Der Mann aus dem Westen. Nicht einer von den kleinen Luden, den Straßeninvestoren, die man alle nach und nach

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