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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Schnabel bis hoch zu seinem Hut gehen. Ist ein Zylinder. Da will er sagen und will, dass wir ihm das glauben, dass er nichts hat. Aber hinter ihm, also auf dem Einband, Berge von Geld. Münzen. Goldmünzen. (Manchmal hat Bertel eine Taschenuhr, an einer Kette, fällt mir jetzt grad wieder ein.)
    Die Uhr, die ich davor hatte, also vor dieser Quarzuhr, war eine Ruhla. Mit einer schwarzen Katze zwischen den Zahlen. Einem schwarzen Katzenkopf mit weißen Augen. Das war natürlich eine Kinderuhr, aber ich mochte sie. Die hat mir der Mann von Mutti geschenkt. Der damals ihr Mann war. Die Augen waren so gemacht, dass sie sich bewegten, wenn man die Uhr bewegt hat. Da waren so kleine Murmeln drin in den weißen Augenhöhlen. Die sich bewegt haben und rumkullerten, das sah sehr lustig aus.
    Ich wollte die Uhr verkaufen, aber das ging nicht. Weil es überall schon neue Uhren gab. Weil keiner meine Ruhla wollte. Trotzdem haben sie mir die geklaut. Gleich in der ersten Nacht, als ich von zu Hause weg bin. Manchmal stelle ich mir vor, wo die Uhr grade ist. Und wer die mir wohl gemaust hat. Da habe ich bei Tina geschlafen. In so einem Abrisshaus. Aber eigentlich war’s noch gar kein Abrisshaus, nur die Wohnungen waren fast alle leer. Das war dort, wo die großen Fabriken sind. Die jetzt auch leer sind. Und der alte Hafen war gar nicht weit. Ich habe gar nicht gewusst, dass wir einen Hafen hier in der Stadt haben. Weil das gar nicht mein Viertel ist. Ich bin hier noch nie gewesen. Und hab gar nicht gewusst, dass die Stadt so groß ist. Ist wie mit den Schwänzen, hat Tina gesagt. Das habe ich am Anfang gar nicht verstanden, woher sie das immer mit den Schwänzen hat. Da habe ich erst gedacht, sie meint das Schule-Schwänzen. Wo sie doch zwei Jahre jünger ist als ich. Sagt sie immer. Ist sie auch. Ein Jahr mindestens. Und da kann sie sich schminken und machen, wie sie will. Aber sie sagt immer so Sachen wie »Frechheit siegt« oder »Besser ein Schwanz als auf der Straße«. Da habe ich schon Respekt vor, wie sie das sagt. Weil ich das nicht könnte. Und wegen ihr bin ich ja auch hier. Aber da kann sie erzählen, was sie will, wenn sie weint, höre ich das.
    Und ich denke manchmal, dass die Uhr ein Uhrenliebhaber hat jetzt. Nicht dass der die geklaut hat. Weil das war einer von den Mädchen oder den Jungs, mit denen ich da in der Wohnung war. Wenn ich meine Tage kriege, ist es richtig scheiße.
    Sie liest das Vorwort. Das sie fast auswendig kann. Und eigentlich kann sie es auswendig, bei Nummer drei tränen ihr wieder die Augen, weil der sich so viel Aftershave draufgemacht hat. Bei den Aftershave-Sprüchen von Tina lacht sie nicht. Oder tut nur so. Weil ihr der After brennt. Wenn sie auf dem Klo sitzt, klappt sie den Deckel von dem Spülkasten hoch und guckt, ob ihre Uhr noch da ist. Sie schwebt im Wasser.
    »Liebe junge Leser! Wenn ihr mal in mein Alter kommt, wird man euch vielleicht auch vorschlagen, eure Memoiren zu schreiben – wie es mir gerade passiert ist. Und wenn ihr dann ebenso vielbeschäftigt seid wie euer alter Freund Dagobert Duck, nehmt ihr womöglich genauso dankbar die Hilfe eines sogenannten Ghostwriters (was wörtlich übersetzt ›Geisterschreiber‹ heißt) in Anspruch, wie ich das tat. Ich muss zugeben: Was dabei herauskam, kann sich sehen und lesen lassen. Denn Talent hat der junge Mann … und Phantasie! Ihr werdet natürlich gleich feststellen, dass all die aufgeschriebenen Histörchen nicht wahr sind – dafür aber ausnehmend gut erfunden. Das werdet ihr bestätigen müssen, wenn ihr die nun folgenden ›fast wahren‹ Episoden aus meinem Leben gelesen habt:«
    Und gleich ist es vorbei, das kann ich hören und spüren mittlerweile, und ich will nicht steif wie ein Brett sein, denn dann ist es nie vorbei, und ich stelle mir die Katze in meiner alten Ruhla-Uhr vor, wie sie mit den Augen klappert. Und wie sie der Uhrensammler durch die ganze Welt trägt. Afrika oder Buenos Aires. Und vielleicht Paris – London. Weil das nicht so weit weg ist. Weil ich da auch schonmal war, also fast war. In London. Weil meine Mutter die Reise für uns beide schon gebucht hatte. Im Sommer oder Herbst neunzig, gleich als es die D-Mark gab. Bis dann Manfred auftauchte. Da war London vorbei. Da habe ich trotzdem in der Schule erzählt, dass ich da gewesen bin. In London. Am Tower. Aber da habe ich mich blöd angestellt. Weil ich zu viel Blödsinn erzählt habe. Wollte ich eben angeben.
    Wie wir mit einem Schnellboot

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