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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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nachdenken, kann es auch nicht. Und will es auch nicht. Wo soll ich denn hin, wenn es draußen schneit. Jetzt schneit es noch nicht, obwohl ich nicht oft rausgucke. Bald ist Weihnachten. Mein Geburtstag ist schon vorbei. Ich weiß, dass ich bald gehen kann. Dass er mir dann das Geld gibt, was er für mich zurücklegt. Das er mir aber nur gibt, wenn ich nichts sage. Wenn ich nichts erzähle. Aber wem soll ich denn was erzählen, wem soll ich denn das erzählen. Sie schämt sich. Sitzt auf dem Teppich, in der Ecke, und malt. Ich mag den Stadtteil nicht, mag das Viertel nicht. Es ist immer dunkel hier. »Es hilft alles nichts! Heute ist arbeitsmäßig nichts mit mir anzufangen!« Bertel sieht müde und traurig aus und trottet aus seinem Geldspeicher. Er ist ja auch nur eine Ente. Dabei singt er weiter oben noch, in einer Traumblase. Das ist sowas wie eine Sprechblase, nur mit einem Bild drin. Ich male manchmal auch in den bunten Bildern rum. Weil ich alle schwarzweißen Seiten schon ausgemalt habe. Weil Weihnachten schon vorbei ist. Über der Traumblase schwebt noch eine Sprechblase, der Gesang von der kleinen Ente, und die ist wirklich viel kleiner als der Bertel, der vor der Traumblase sitzt und auch noch was sagt. Ich glaube, er ist da ein Kind, in der Traumblase, in der er angelt und singt. »An einem Bächlein helle … dada … dada-dadadada …« Noten flattern um ihn rum. Die Angel ist ein Holzstöckchen mit einer Schnur dran.
    Ich habe noch ein anderes LTB bei mir. Aber das ist kaputt, die haben mir das kaputt gemacht, als ich mal nicht aufgepasst hab. Ich weiß aber nicht, ob das in dem Abbruchhaus war oder hier. Jetzt ist nur noch die Vorgeschichte da und ein Stück vom Anfang. Zu Weihnachten gab’s nur »Bravos«, einen Stapel »Bravos« und »Pop Rockys« und Süßkram. In einer »Pop Rocky« war was über George Michael. Die habe ich mir gleich zur Seite gelegt. Dann durften wir ausschlafen. Ich habe Kopfschmerzen von dem Sekt. Ich mag eigentlich keinen Alkohol. Obwohl ich schon welchen trinken darf. Letztes Silvester, da war ich noch fünfzehn, da durfte ich auch welchen trinken. Aber nur ein halbes Glas. Da war ich sofort bisschen beschwippert, und Mutti hat gelacht. Wir haben viel gelacht. Meine ganzen LTBs sind noch bei Mutti. Wenn Jochen sie nicht weggeschmissen hat. Ich sehe wirklich nicht viel älter aus als Tina. Oder sie sieht älter aus, als sie ist. Ich habe das Gefühl, sie wird immer dünner. Manchmal schlafen wir hier, manchmal bringt er uns woanders hin. Wenn wir wegrennen, findet er uns. Ich bin nicht so schnell. Wenn ich ein Junge wäre, wäre ich viel schneller. Wir sind von zu Hause weggerannt und wollen schon wieder wegrennen.
    Sie rennen. Sie rennen durch diese dunkle leere Straße. Die heißt wie das Bundesland im Norden, wo sie so gerne Urlaub machen würden, am Meer. Vorbei an alten Fabriken, noch dunkleren Seitenstraßen, über Eisenbahnschienen, die aus großen Fabriktoren kommen und die Straße kreuzen. Neben ihnen, unterhalb der Straße, fahren S-Bahnen wie durch eine Schneise. Doppelstöckige Waggons, die Leute in den Waggons starren zu ihnen hoch, bewegen ihre Lippen, öffnen den Mund, legen die Hände an die Scheiben, als würden sie schreien. Oder rufen. Sie sehen die nächste Station Hunderte Meter entfernt, ein paar hundert Meter entfernt, sie können das nicht richtig einschätzen. Ein kleiner Bahnhof am Rand der Stadt. Vor ihnen. Als sie im Tunnel sind, der zu den Bahnsteigen führt, hören sie das Rumpeln des Zuges über sich. Er fährt weiter, ohne zu halten, wird leiser, dadam, dadam, da …, und der Tunnel ist dunkel und still. Riesige Smileys an den Wänden, die sie anlächeln. Schritte auf der Treppe, auf den Treppenstufen. Vor ihnen. Hinter ihnen. Sie halten sich an den Händen, laufen zur Mauer und pressen sich dicht an den Stein. Aber es ist nur …
    »Auf dem Land sollte man leben! Draußen in der freien, unberührten Natur! An der frischen Luft!«
    Bertel kommt auf sie zu. Er trägt einen roten Schlafrock und eine blaue Schlafzipfelmütze mit roter Bommel, die auf seinem Rücken baumelt und auf und ab springt bei jedem Schritt. »Nicht in dieser grauen Betonwüste!« Er wackelt mit den Hüften, »Hallo, ihr Lieben!«, sie sehen ihre Gesichter in seinen riesigen Entenaugen, er schwingt seinen Spazierstock, und die blaue Bommel seiner roten Schlafzipfelmütze tanzt auf seinen Schultern.
    Ich bin oft müde. Und ich schlafe oft. Immer wenn es geht. Weil ich

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