Im Stein
den Gleisen, und ich ging weiter durch den Schnee, und der Kanal war zugefroren, aber unterm Eis war ein seltsames dunkelrotes Leuchten, ein Glühen, und der Schnee fiel, ganz ganz große Flocken waren das, und langsam fielen die, die schwebten, die waren wie weiße Schmetterlinge.«
Er lehnte jetzt an der Wand, hatte sich das Kopfkissen hinter den Rücken geschoben, sie legte ihren Kopf an seine Schulter. »Wie Schmetterlinge«, sagte sie.
»Und ich bin dann durch die langen Straßen gelaufen, Lenin, Republik, kennst du ja, aber die nahmen und nahmen kein Ende, wie das manchmal so ist im Traum. Am Theater vorbei, und da waren auch Häuser, die hatte ich so noch nie gesehen. Große graue Türme. Endlos hoch waren die. Und dieses Dämmerlicht, als würde es von einem riesigen Mond kommen, aber den Mond habe ich nicht gesehen, ich habe mal gelesen, dass man im Mondlicht alles nur schwarzweiß erkennen kann, also wenn du eine Zeitung liest zum Beispiel.«
»Ich glaube nicht, dass das wirklich so ist.«
»Wenn der Mond wieder scheint, probieren wir das aus.«
»Ja, Hans, das machen wir.«
»Und ich also immer weiter, immer weiter durch den Schnee. Und dann habe ich Spuren gesehen, die waren ziemlich groß, also meine eigenen können es nicht gewesen sein, dass ich im Kreis gelaufen bin, verstehst du. Und das waren Spuren, die waren riesig. Und mehr so quadratisch, als wäre da einer mit Schneeschuhen gelaufen. Und da bin ich denen gefolgt, aber die hörten dann auf. Und als ich so an mir runtergucke, sehe ich plötzlich, dass ich riesige, behaarte Füße habe.«
»Na ja«, sie lachte an seiner Schulter, »du hast ja wirklich mindestens fünfundvierzig. Und Haare sind auch drauf.«
»Ach was, stimmt ja gar nicht. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie groß die plötzlich waren, und es schien mir sogar, dass die immer größer wurden. Da bin ich dann gerannt. Und das ging gut, mit dem Rennen. Nicht so, wie das manchmal ist, dass man gar nicht von der Stelle kommt, nee, ich bin fast geflogen, habe Riesensätze gemacht, aber irgendwie auch in Zeitlupe. Und dann war ich am Werk.«
»Am Stahlwerk.«
»Ja. Aber nee, warte, vorher, da habe ich noch dieses dumpfe Hämmern gehört, mehr so eine dumpfe Trommel, so ein Trommeln. Bumm, bumm, bumm. Ganz monoton, und irgendwo aus der Ferne kam das. Da war ich noch in den leeren Straßen. Und das kann auch sein, dass das von mir kam, dass das von meinen Riesensätzen kam, wie ich da mit meinen Fellfüßen immer auf den Boden bin. Bumm, bumm, bumm. Und ich weiß gar nicht genau, ob ich das am Tor, also am Werkstor, auch noch gehört habe. Und dann bin ich da rein.«
»Hast du deinen Vater getroffen?«
»Ja.« Er spürte, dass er schwer atmete, dass er außer Atem war, musste sich zusammenreißen um weiterzureden, und sie streichelte wieder sein Gesicht mit ihrer rauen Hand.
»Der stand da, am Hochofen, trug die grobe Lederschürze und die Gesichtsmaske mit dem getönten Glas vorne drauf, und er machte einen Abstich mit der großen, langen Eisenstange, und er warf die plötzlich weg und beugte sich vor, und der Stahl floss über seine Hände, und der rotglühende Stahl war überall. Und da hab ich gerufen. Vater, habe ich gerufen, pass doch auf, Vater, du verbrennst. Aber der hat’s gar nicht gehört. Und auch ich hab mich selbst nicht gehört. Scheiße.«
»Ist gut, Hans, ist alles gut.« Sie küsste ihn auf den Hals und aufs Kinn und dann auf die Stirn.
»Ja, ja. Ist schon gut. Ist schon alles gut. Was man so träumt. Und ich hab gerufen und gerufen. Aber der sture Alte mit beiden Händen in diesem glühenden Strom. Der formte da irgendwas, der hat da irgendwas geformt. Figuren, Stahlträger, ich konnt das nicht richtig erkennen. Gebückt stand er da, ganz ohne Handschuhe, und das Komische war, dass der ganze Boden, dass da alles voller Handschuhe, voller Arbeitshandschuhe lag. Und ich will zu ihm hin. Die Halle ist riesig mit einer hohen Kuppel, wie eine Kathedrale, ja, und das flackert und sprüht Funken, der Stahlfluss da vor ihm aus dem großen hohen Konvertgefäß, das war nicht der normale Hochofen, den kannte ich ja, den hat er mir doch mal gezeigt, da sind wir doch sogar mal mit der Schule hin, ich krieg das Bild auch kaum noch zusammen. Aber gestolpert bin ich, immerzu bin ich über diese bescheuerten Handschuhe gestolpert. Und da dreht er sich zu mir um und nimmt die Maske ab, und sein Gesicht ist so weiß, dass ich im Traum kurz meine Augen schließen muss,
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