Im Stein
so blendet mich das, sein weißes Gesicht. Und die Augen leuchten rot, als wäre der Stahl reingeflossen, als wäre der schon in ihm drin, und da sagt er: Ich habe schon lange auf dich gewartet.«
»Hast du ihn denn oft besucht im Krankenhaus?«
»Nein, nicht oft. Wir … haben uns nicht so gut verstanden. Das Letzte, was er zu mir gesagt hat, war, dass wir ihn nicht verbrennen sollen. Dass er nicht in eine Urne will.«
»Aber ihr habt ihn doch gar nicht verbrannt. Es war doch kein Urnengrab.«
»Nein. Haben wir nicht. War es nicht. Und irgendwas anderes hat er auch noch gesagt.«
»In deinem Traum?«
»Ja.«
»Du erinnerst dich nicht?«
»Nein, warte … Nein.«
»Denk nicht drüber nach, Hans. Vergiss den bösen Traum.«
»Aber ich weiß genau, dass es wichtig war. Ich weiß, dass er mir irgendwas Wichtiges noch gesagt hat.«
»War er dir böse, dass du weggegangen bist, damals?«
»Er hat das nie verstanden. Eine Bar. Das war keine ehrliche Arbeit für ihn. Er kam aus ’ner Bauernfamilie und war dann sein ganzes Leben Stahlarbeiter. Er hat was gesagt, ich weiß es ganz genau, dass er noch was gesagt hat.«
»Lass uns schlafen, Hans. Vielleicht fällt es dir morgen wieder ein.«
Er fährt mit beiden Händen unter das Unterhemd, das sie trägt, sein Unterhemd, legt seine Hände auf ihre Brüste, streichelt sie, zieht ihr das Unterhemd über den Kopf, küsst sie, streicht über ihr Schamhaar, saugt an ihrer Brust und schiebt seine Finger in sie, sie flüstert an seinem Ohr, zerrt die Decken zur Seite, presst sich an ihn, und er weiß, dass er die Stadt und die Steine und die Toten für immer vergessen muss.
Er fährt. Die weiten weißen Felder links und rechts der Straße. Wälder. Dörfer. Kleine Häuser zwischen den kahlen Bäumen. Irgendjemand musste es ihr sagen, irgendwann. Verdammtes Dorf, verdammte Stahlstadt.
Sie laufen am Fluss entlang. Eisschollen auf dem Wasser. Er erzählt ihr von seiner Tochter. Dass seine Ex-Frau nicht will, dass er sie sieht. Erzählt von seinem Großvater, der einmal ein Bauer gewesen ist, bis die LPG ihm das Land wegnahm. Sie erzählt von ihrem Ex-Mann, der eine andere Frau in Berlin kennengelernt hat, als er dort arbeiten musste.
Er hat die Kindersachen im Schrank gesehen, und sie hat ihm von ihrer Fehlgeburt erzählt, vor vielen Jahren. Sie stapfen durch den Schnee, er wirft einen Schneeball ins Wasser, bleibt etwas zurück und wirft dann einen Schneeball nach ihr. »Ich will, dass du mir einen Cocktail machst, Hans«, ruft sie, »was Besonderes und nur für mich!«
»Klar, mach ich. Casablanca-Liv. Rum und Schnee und frische Minze.«
Er greift in den Schnee, rennt hinter ihr her, hört sie lachen und spürt, wie der Schnee in seiner Hand schmilzt.
Der Kolumbusfalter
Vorgeschichte: Bertel sitzt hinterm Schreibtisch, als seine Sekretärin reinkommt mit einer wichtigen Meldung. Der Notizblock, den sie in einer Hand hält, ist allerdings leer. Sie nimmt einen Bleistift und schreibt »ACHTUNG WICHTIG« auf den leeren Notizblock. Die Schrift ist zu groß und geht bis über den Rand und ins Bild hinein.
»Ein Herr Schmitz wünscht, Sie zu sprechen, Herr Duck!«, ruft sie aufgeregt.
»Soll reinkommen!«
Und da kommt er auch schon, in Schwarzweiß. »Einen wunderschönen guten Morgen …«
Der Mann hat blonde Haare, sie malt sie später blond. Mit einem gelben Buntstift. Die schwarzweißen Seiten habe ich früher immer ausgemalt, manchmal mache ich das heute noch. Im Sommer habe ich auf dem Flohmarkt viele LTBs gekauft. Für zwei Mark oder zwei fünfzig. Manchmal kosten sie auch drei Mark, das ist mir zu viel. Manche machen auch Sonderpreise, wenn man mehrere auf einmal kauft. Ich mag die Ausgaben mit Donald am liebsten. Micky ist ganz o.k., vor allem Goofy mag ich.
Der Erste heute hatte graue Haare. Das passt ganz gut, denn ich stelle sie mir immer in Schwarzweiß vor. Alles eigentlich. Später male ich. Auf den Flohmarkt gehe ich seit zwei oder drei Jahren. Genau weiß ich das grad nicht. Jedenfalls waren das die ersten Flohmärkte, auf denen es Comics und Videos gab. »Stopp! Sparen Sie sich die Mühe! Schon abgelehnt!« Bertel ist streng und in Fahrt. Da kann ja jeder kommen. Alle wollen ihm was aufschwatzen. Die Nummer 86 ist eins der letzten LTBs mit Vorgeschichte. Ich friere und ziehe mir einen Bademantel an. Draußen ist es schon kalt. Das Jahr ist bald zu Ende, und dann wird es richtig Winter. Aber die Winter hier in der Stadt können auch mild
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