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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Sachsenland durchblätterte und überflog, blieb er bei dem kleinen Artikel hängen. In Klammern stand »dpa« unter der Überschrift. »Die Hauptzeugin in der sogenannten Akten-Affäre hat gestern schwere Vorwürfe gegen Vorgesetzte aus dem Landesamt für Verfassungsschutz erhoben. So seien nach Bekanntwerden der Anschuldigungen wesentliche Akten über den Fall verschwunden.«
    Er hatte von dieser Sache gehört. Üble Geschichte. Die jetzt hochkochte, während in der Stadt sich die Dinge zuspitzten, die Invasoren rückten langsam vor, April zweitausendneun. Ein paar Bekannte hatten ihn gefragt, was er denn davon wisse. Nichts! Was habe ich mit diesem Dreck zu tun? Er wusste, dass AK einmal ein paar Russinnen hatte hochgehen lassen, weil die miese Geschäfte mit jungen Mädchen und Minderjährigen aus Russland machten, nicht weit von einigen Objekten, die AK vermietete. Eine Dreckversicherung gab es leider nicht. Aber das, was er las, war ein ganz anderer Dreck. Die Sümpfe sind unergründlich. »Konkret listete die Juristin XXX Berichte über Treffen mit Quellen des Geheimdienstes sowie Aussagen von sieben verschiedenen Auskunftspersonen auf. Sie hätten unter anderem Hinweise darauf erhalten, dass Kinder aus Osteuropa zum sexuellen Missbrauch nach XXX gebracht werden sollten. Auch Informationen über korrupte Polizisten und sexuelle Neigungen von Justizbeamten hätten sich in den Quellenberichten befunden.«
    Manchmal konnte er diesen ganzen Scheiß nicht wirklich glauben. Als wär’s ein übler Film, Verschwörungen, 8 Millimeter. Aber er wusste, dass vor fünfzehn Jahren, er war damals gerade in die Stadt gekommen, ein ähnlicher Dreck durch den Untergrund schwappte. Richter, Staatsanwälte, Bullen, die geil auf junges Fleisch waren. Die Geschäftsmänner, die an die Aktie Rot glaubten, hatten wohl dazu beigetragen, dass diese Schweine verschwanden. Und die Legende flüsterte, dass AK irgendwie an Fotos der Drecksäue gekommen war … Er schüttelte sich. Shut up, alter Mann . Er kannte genug Leute von der Straßenbrigade, die trugen hin und wieder T-Shirts »Todesstrafe für Kinderschänder«, und die hätten alles gegeben, um solche Menschen, das war ja das Problem, mit den Menschen, in die Finger zu bekommen.
    Er fuhr durch eine schöne Landschaft. Wäre er in seinem alten BMW angereist (da machten sie sich schon lustig, dass er immer noch diese Karre fuhr, die fast ein Oldtimer war), hätte er den Blick auf die sächsischen Wälder, die jetzt schon thüringische Wälder sein mussten, den Blick auf die Felder, auf denen der Nebel stand am Horizont, vom Licht durchdrungen, hätte den Blick auf die kleinen Seen, die plötzlich auf Waldlichtungen auftauchten, die Flüsse, die Hänge, die sich auf beiden Seiten der Strecke erhoben und wieder abflachten …, hätte all das nicht in aller Ruhe genießen können. Was für eine Ruhe. Er war schon immer gerne Zug gefahren, knüllte die Zeitung zusammen und erinnerte sich, wie er einmal, vor wenigen Jahren erst, die Idee gehabt hatte, das Land, also das ganze Land, mit dem Zug kennenzulernen.
    Er stand schon seit fünf Minuten mit zugeknöpftem Mantel an der Tür, als der Zug endlich und quietschend hielt. Nein, er hatte still und langsam gestoppt. Das langgezogene Quietschen war nur in seiner Erinnerung, Züge in der Zone, schmutzige Züge auf dem Bahnhof der Grenzstadt, grüne Kunstlederbezüge bei der Einfahrt in den Ostbahnhof, wir hielten uns die Ohren zu …
    »Willkommen auf dem längsten Bahnsteig Deutschlands«. Er blickte auf das Schild, diesen Satz, diesen Gruß unterhalb des Namens des Städtchens G., hörte, wie sich die Türen hinter ihm mit mehreren Pieptönen und dann einem Knall schlossen, hörte, wie der Zug wieder Fahrt aufnahm, spürte den Wind im Rücken, am Mantel, blickte sich dann um. Mit ihm waren nur drei oder vier Reisende ausgestiegen, die jetzt schon ein ganzes Stück weit gelaufen waren, dort musste also die Unterführung sein, Richtung Stadt. Auf dem Gleis gegenüber stand ein anderer Zug. Verdammt nochmal, der Bahnsteig war wirklich lang. Er war ja vorher immer mit dem Auto angereist, also das eine Mal, als er die alte Villa besichtigen wollte.
    Der Bahnsteig war überdacht und zog sich in beide Richtungen scheinbar endlos hin. Das musste mindestens ein Kilometer sein. Den verschwundenen Zug im Rücken, blickte Hans auf eine Böschung hinter den Gleisen, der Bahnsteig war so lang, dass der andere Zug weit weg stand, Hans blickte auf

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