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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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verdammt kalt hier unten, und jetzt weiß er wieder, was es mit dieser chinesischen Meile auf sich hatte, und Steffen trifft im Knast von Kiel einen halbtoten Typen, der ihm rät: Belaste die Großen, den Paten aus Hannover und alle, die wichtig sind, und die Unwichtigen gleich auch mit, nur dann kommst du in ein Schutzprogramm, Südfrankreich wäre doch schön. Und sie sitzen in »Ivonnes Eck«, AK, Steffen, Alex, Hans, der Mann vom Haus X, das inzwischen unter anderer Verwaltung steht, die Gebrüder Wöhler und ein paar andere der üblichen Verdächtigen, Wichtige, Unwichtige, fünf Uhr morgens, Dreiundzwanzig-Stunden-Kneipe mit dreiundzwanzig Stunden warmer Küche, Scheine auf dem Tresen, Dartpfeile nähern sich in Zeitlupe den Zahlenfeldern, Tripple Seven, das Bullen-Auge in der Mitte des Kreises, die Mädchen trinken Sekt oder Weißweinschorle, oder Kaffee mit und Kaffee ohne, »Hast du gewusst, dass die Chinesen die Wegeabstände nicht nach den genauen Abständen messen?«, »Wie meinen?«, die Flasche ist längst leer, es muss schon Nacht sein draußen, einmal hat er in einem Sarg geschlafen, sagt er, »Glaub ich nicht!«, Dartpfeile bohren sich in die Tripple Seven, das Bullen-Auge in der Mitte des Kreises wird wieder mal verfehlt, ein Pfeil prallt ab und klirrt zwischen die kleinen Gläser, »Was für ein bescheuertes Netz, und was soll das sein genau?«, neunzehnhundertsiebenundneunzig, »Science-Fiction oder was, ein Fall für Lem!«, Hans lacht und greift sich die Scheine, weil er seine Punkte ganz sauber und Runde für Runde runtergeschossen hat bis zur Null, »Herbert Lem?«, fragt jemand, »Quatsch«, sagt Hans und stopft die Scheine in seine Jackentasche, »Du meinst Herbert Lom, das ist der Böse aus ›Schatz im Silbersee‹«, »Wer den großen Lem nicht kennt, dem ist nicht zu helfen«, sagt AK und drückt seine Zigarette aus, die er noch nichtmal zur Hälfte geraucht hat, er will, verdammt nochmal, endlich aufhören, aber das ist nicht so einfach, wenn sie alle qualmen wie die Schlote von good old Bitterfeld, aber da raucht ja auch nichts mehr inzwischen, zum Glück, im Winter drängte das alles in die Stadt, Smogalarm Ende der Achtziger, live is life , und da grölen sie alle mit, Gabi isst Rindsrouladen, bald sieht sie aus wie Molly Luft, sagt das jemand?, und diese blödsinnige chinesische Meile? »Dir fehlt das Verständnis, Arnold. Die Chinesen, die alten Weisen und Philosophen …«, und er läuft am Ufer entlang, hält das leere Weinglas noch in der Hand, schleudert es dann ins Dunkel, hört, wie es aufs Wasser prallt, sieht erst die Schatten und dann die Gesichter zwischen den Büschen (sein Sohn?, Mary? … Alex? Das fast vergessene Gesicht des Lübbke, den sie den »Steinmann« nannten?, Bärbel?, aber das sind nicht seine Baustellen! Wer seid ihr?), »… die Schwierigkeit des Weges, verstehst du, so waren die Meilen immer unterschiedlich lang. Je nachdem, was dazwischenlag, wie unwegsam das war, Felsen oder Bergpässe oder Flüsse ohne Brücken. Die konnten nie sagen, so und so ist die Entfernung. Die chinesische Meile kann eine Meile oder anderthalb Meilen lang sein. Zweitausend Meter, fünfzehnhundert Meter …«
    »Und was soll mir das sagen? Soll ich die Welt jetzt neu verstehen?«
    »Nein. Nichts. Ich erinnere mich nur, wie ich es dir einmal erzählte.«
    Rauch über dem Gebäude. Er stolpert über die Wege. Wieso denkt er, dass sein Sohn sich hier irgendwo rumtreibt? Sich irgendwo hier im Dunkeln rumtreiben könnte. Aber das ist ein anderes Kapitel. Steine, so weit er blicken konnte, vor ihm in der Dunkelheit. Die Umrisse von Bäumen, Büschen, er stieß auf Mauern, während er versuchte, den Weg nach draußen zu finden. Die Berge am anderen Ufer des Sees.
    Er blickt und schaut und weiß nicht, was er sieht. Ein Engel zwischen den Büschen, auf einer steinernen Bank. Den Kopf geneigt, die Stirn gerunzelt, ein langer Bart fällt bis auf seine Brust. Die Flügel wölben sich über seine Schultern. Die Augen hat er geschlossen, eine Hand stützt den gesenkten Kopf. Er verwittert in der Zeit. Irgendwo klingelt ein Telefon. AK dreht sich um, sieht das Licht auf der Veranda und geht zum Haus. Zwei Drohnen mit Nachtsichtkameras kreisen still unter den Wolken.

Hinter den Spiegeln
    Gaaaanz elegant! Mit bisschen Alice.

    »Was meinen Sie?«
    »Oh, sorry, hab nur laut gedacht.«
    »Alice, Alice, who the fuck is … Oder meinen Sie die Alice unten an der Bar?«
    »Ja,

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