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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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liegt im Herzen der Meere, als sie draußen vor der großen Stadt die Moore ausräumen, trockenlegen und urban machen (wie einst die Bauern das Land urbar machten, seine Großväter den Boden, die harten Erden einst noch mit Hilfe von Sprengstoffen lockerten), neues Bauland erschaffen, weil dort die Stadt hindrängt, die Vorstädte expandieren, Waben von Einfamilienhäusern, Siedlungen, durchbrochen von den flachen Quadern der Großmärkte, Supermärkte, Baumärkte, er erinnert sich, während er langsam aus diesem Traum auftaucht, den er immer träumt, von einer unendlichen Fläche Wasser, kein Schiff, kein Land, nur hin und wieder ein Fisch, ein Wal, etwas Großes zumindest, das aus der Tiefe kommt, diesem Blau , diesem Schwarz , er erinnert sich und spürt das Kribbeln seiner eingeschlafenen Hände.
    Als sie die Körper finden, im Boden, im Moor, wälzt er sich von der großen dicken Frau, mit der er sich abquält, als wollte er sich selbst quälen, denn für sie scheint das alles keine Qual zu sein, aber was weiß man schon, sie versteckt sich ja inmitten ihres ungeheuren Fleisches. Er taucht auf, aus den Tiefen, Tausende Meter.
    Bluthochdruck. Stechen im Kopf. Er spürt seine Gefäße und sein Hirn hinter den Glaskörpern seiner Augen, ein Druck, hinter der Aderhaut, hinter der Netzhaut, wo sich alles spiegelt, wo der blinde Fleck sitzt. Punkte, Striche, Ellipsen flimmern vor ihm durch den Raum. Er muss eine Tablette nehmen. Kommt sicher von dem Sekt.
    Er war hinabgesunken in diesem Traum, tief ins Blau, ins dunkelblaue Schwarz. Dort sieht er manchmal Ruinen, Mauern, der Boden ist faltig, diese Reste von Städten, oder was immer das sein mag, sind halb versunken im zerklüfteten, faltigen Boden, Tempelanlagen vielleicht, denkt er manchmal nach dem Erwachen; er ist sechsundfünfzig, seit siebzehn Jahren in der Stadt, und seitdem hat er diesen Traum. Er hat schon oft überlegt, sich versetzen zu lassen, zurück nach Köln, vielleicht zum BKA, zurück zum BND, wo er einst als junger Mann in den Kellern hockte und forschte, Fotos, Materie, Fleisch, oder er könnte sich pensionieren lassen und irgendwo an die Küste ziehen. Die Luft des Meeres würde ihm guttun. Er hat eine kleine Hütte, eine Datscha, wie sie hier und dort sagen, in der Nähe der Grenzstadt, am Grenzfluss, oben im Nordosten. Billig gekauft vor zehn Jahren. Weit weg von hier . Im Niemandsland zwischen Polen und Deutschland. Er hat ein kleines Motorboot dort, das im Winter in einem winzigen Schuppen steht, seinem Bootshaus, er nimmt sich seit Jahren vor, einmal bis hoch zur Mündung zu fahren, ins Haff, diesem großen verzweigten Becken, aus dem drei schmale Arme ins Meer führen. Er ringt nach Luft, wie jedes Mal, wenn er aus dem Traum von der Tiefe erwacht. Sein Handy auf dem Nachttisch. Neben den zerrissenen Verpackungen der Gummis. Er hört sie im Bad, hört das Rauschen der Dusche. Sie hat nicht viel Kundschaft, das weiß er, und deshalb ist ihre Haut nicht trocken wie Pergament, die Mädchen, die nach jedem Gast duschen, meistens machen sie das sowieso nur am Anfang, wenn sie noch neu sind. Bei ihr, denkt er, glaubt er, ist es ein Zeichen, dass es ihr gutgeht, dass sie gute Laune hat. Weil sie auch singt. Das muss am Sekt liegen. Aber den trinkt sie immer. Schon beim ersten Mal, wie lange ist das jetzt her?, öffnete sie die Tür im Morgenrock, oder war es ein seidener Unterrock?, oder wie immer man das auch nennt, ein Sektglas in der Hand, lachend, dass ihre Titten und ihre Hüften wie Götterspeise bebten: »Mein Guter, komm rein, die Sonne geht auf!« Und es war wirklich am Morgen gewesen, aber ein Wintermorgen, die Sonne ein fahler zerrissener gelber Fleck hinterm Dunst und für sie sicher nicht zu sehen, Erdgeschoss, die Jalousien geschlossen, nur in der Küche fällt etwas Tageslicht durchs Küchenfenster, ein kleiner Hinterhof, das sieht er im Vorübergehen durch die angelehnte Tür.
    Er hat immer noch Kopfschmerzen und spürt den stolpernden Schlag seines Herzens. Er weiß nicht, wer nach ihr hier arbeitet, wenn sie um sechzehn Uhr geht, oder ob ab zwölf schon jemand kommt. Er sieht die zwei Anrufe auf dem Display, sieht, dass er beim ersten rangegangen sein muss. Ein kleiner Briefumschlag blinkt, und er öffnet die SMS, liest die Wegbeschreibung. »Waterworld«, sagt sie plötzlich und sitzt neben ihm. Wasser tropft aus ihren Haaren auf seine Beine und seinen Bauch.
    »Was?« Er richtet sich auf, und sie massiert ihm die Eier, streicht

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