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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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gestern.«
    »Welche Seen?«
    »Die großen Seen, mein Gutster. Da solltest du auch mal hin, da kriegst du bisschen Farbe!«
    »Die großen Seen sind in Amerika.« Aber er wusste, welche Seen sie meinte, draußen vor der Stadt, wo sie einst den Boden aufgewühlt hatten, riesige Bagger, die nach Braunkohle wühlten. Er hatte die Gruben noch gesehen, als er in die Stadt kam vor siebzehn Jahren, am südlichen Rand, direkt hinter den Häusern der Vorstädte, riesige Gruben, in denen die Bagger demontiert wurden, die Flutung sollte schon bald beginnen, und jetzt, nach all den Jahren, war es zur Mode geworden, sich eine Jacht zu kaufen oder ein Boot, um über die Seen und die Kanäle zu schippern, wie Meerbusen, wie ein Bodden oder ein Haff wirkten sie auf die Ferne, als wäre man durch seltsame Portale von der flachen, flusslosen Stadt bis an die Küste gereist.
    »Mach’s gut, Schimanski!«
    »Viel Spaß mit der Mutti.«
    Er würde sie gerne fragen, wie alt sie ist. Mitte dreißig, hatte er von Anfang an geschätzt. Aber er wusste, dass man sich da gut täuschen kann, wie bei den Toten. Er erinnert sich, wie sie einmal in Köln zu einer alten Frau gerufen wurden, die saß hinterm Hauptbahnhof, seitlicher Blick auf den Dom, in einer kleinen Nische zwischen Mauer und Fußweg, die war neunzehn, wie sie später feststellten, aber die Haut durchfurcht wie ein Acker und strohiges graublondes Haar. Sie war einfach gestorben, keine Überdosis, der Körper voll mit Giften, sie hatte sich in diese Nische gesetzt, die so winzig war, dass sie sie förmlich hinaushebeln mussten. Er schüttelt den Kopf, verortet sich wieder in der Wohnung, der Straße, der Stadt, Gewinnen Sie eintausend Euro, nur auf zweiundneunzig Komma drei, der Montag wird golden , das Radio flüstert heiser aus der Küche, die Tür angelehnt wie immer, ein kurzer Blick in den Raum, etwas Licht fällt auf den Tisch, der am Fenster steht.
    »Was sie jetzt wohl für mich haben?«, denkt er, fühlt sich müde nach den Stunden bei ihr, der Blocker wirkt gut an diesem Vormittag, sie legt ihre Hand auf seine Schulter, bevor er die Tür öffnet und geht. »Komm bald wieder, Schimanski, und pass auf dich auf.«
    »Und du auf dich.«
    Anfang der Achtziger gehörte er einmal für kurze Zeit zu einer Art Filmberatungskommission, die für den »Tatort« gearbeitet hat, Kommen Sie mal mit, junger Mann , um die Morde und die Aufklärungen realistischer zu machen. Er hielt nicht viel davon. Tote am Bahnhof, Raubmord im Trinkermilieu, Drogen, Ehepartner, wen interessierte sowas schon? Dann lieber die Dramen, die dramatischen Seifenopern, Schimmis Faust, Cognac und Zigaretten für Haferkamp, lange her, er kann sich noch erinnern, wie er Anfang der Siebziger staunend diese Serie sah, wie hieß die noch, »Der Alte«, nein, »Der Kommissar«, staunend über die unzähligen Gläser Wein, Bier, Weinbrand, Korn, Whisky, die die Ermittler, stets rauchend, konsumierten, München, Stadt des Lasters, mondäner als Köln, er kann sich an das kleine blaue Büchlein erinnern, das damals von Hand zu Hand ging, auf der Akademie, »Der Quartiermacher für erotisch interessierte München-Besucher«, er nähert sich der Kreuzung, wo es Richtung Autobahn geht, Richtung Hauptstadt, die Autobahn nach Süden, Richtung München, kreuzt am anderen Ende der Stadt ihren zerfransten Rand, schwarze Lettern SALON-NUTTEN, HOSTESSEN UND SONSTIGE SOLISTINNEN DES HORIZONTALEN GEWERBES auf hellblauem Grund, ein Türkis fast, obwohl er sich nicht ganz sicher ist, ob das, was er für Türkis hält, auch wirklich Türkis ist, Farbenlehre, eine blonde schlanke Dame neben den Buchstaben, Rücken Beine Arsch, eine Brust gerade so zu sehen, die Spitze einer Brust neben dem ausgestreckten Arm. Er kann sich an die Überschriften der Kapitel erinnern, in denen die Mädchen vorgestellt wurden, am Ende eine Telefonnummer. »Michaelas Brust ganz ausgezeichnet« oder »Michaelas Brust ist ausgezeichnet«, »Das junge Vötzchen«, »Kleopatra in Schwabylon«, da muss er lachen und bremst, obwohl er das Gelb sicher noch geschafft hätte, aber es treibt ihn nicht dort hinaus, wo die Körper liegen müssen, wo sie auf ihn warten und langsam die ganze Maschinerie beginnt, sich in Gang zu setzen, Autos, Experten, viel viel Absperrband, von wegen einfach mal das Blaulicht aufs Dach. Er bewegt sich langsam im Strom der Fahrzeuge, vielspurig der Verkehr, das Gewimmel der Vorstädte, die schon bald in die Nachbarstadt hineinreichen

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