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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Ness, »die Front ist in unserer Mitte.«
    »Ist sie das?«
    »Mein Lieber, mein Lieber, alles hängt zusammen, der Klüngel regiert, das musst du doch aus Köln kennen.«
    Und wie Eliot Ness dieses »Mein Lieber, mein Lieber« in der Mundart der Einheimischen sagt, denkt er, der alte Bulle, an das »Meine Sonne, mein Gutster«, das sein Dickerchen ihm immer über die ewige Grenze der Türschwelle entgegenruft. »Komm rein, die Sonne geht auf.« Er übertritt diese Grenze, geht zu ihr und lässt seinen Drachen steigen , ein Lied, das manchmal im Radio kommt, wenn sie den Oldie-Sender in der Küche eingeschaltet hat, ein Lied, von dem sie ihm erzählt, ein Lied ihrer Jugend, obwohl sie so alt noch gar nicht sein kann, aber ein Oldie eben, ein Ost-Oldie, ein Immergrün. Er denkt oft in den letzten Woche und Monaten, dass er sie gern hat. Diese dicke Frau mit den wunderbaren dummen Sprüchen. »Schreite ein, mein holder Ritter«, welche Grenzen soll er überschreiten, denkt er, die Toten sind mit mir, und der Boden tut sich auf an ganz anderen Orten.
    Er sitzt, und das ist nur eine Form der Erinnerung, an der Theke des beflaggten Hauses, trinkt ein Bier, weil ein Bier immer geht, trinkt dann ein zweites, als sie eintreten, einer nach dem anderen, während er mit der Chefin redet. So und so, die Dinge, was passiert, was hört man, wie geht’s den Frauen, dies und das und jenes, unverbindlich, weil er als Bulle hier keine Fragen stellt. Weil er gelernt hat in all den Jahren, dass man Antworten eher bekommt, wenn man nicht fragt. »Scheiße«, sagt Eliot Ness, »man muss bohren.« Die Gruppe Outsiders, er hat ihre Motorräder, ihre »Mopeds«, wie sie selber sagen, kaum gehört, kaum kommen gehört, und er weiß auch, dass nichtmal die Hälfte von ihnen Mopeds hat, Eliot Ness bestätigt ihm später, dass sie die Vorhut des Alten vom Berge sind, aber dass auch das bröckelt. Dass sie den Engeln nahestehen. Aber auch das bröckelt. Aber alles nicht sein Bier. Während er sein Radeberger trinkt.
    Und da marschieren die sieben, acht, neun Männer ein bei der Chefin, und die Fahne flattert oben im Wind. Herzen wie Diamanten. Wo hat er das schonmal gehört? Von wegen, dass die riechen, dass er ein Bulle ist. Weil sie gesehen haben, dass er mit der Chefin im vertraulichen Gespräch gewesen ist, als sie reinkamen, geben sie ihm sogar die Hand. Dabei sein ist alles . Die Mädchen marschieren langsam auf, es wird Zeit, es wird Abend. Die Chefin sagt: »Ich muss mal kurz« und geht mit den Männern an einen der Tische, im Schatten, im Halbdunkel, und die Mädchen sitzen neben ihm an der Bar. Lederjacken. T-Shirts. Große Kerle. Outsiders eingebrannt, eingeschrieben. T-Shirts, Jacken, Haut. Er nippt an seinem Bier, und eine der Frauen geht hinter die Bar. Vertretung sozusagen. Er legt Geld auf die Theke und gibt aus. Eine junge Frau neben ihm. Dunkle Haare. Du könntest meine Tochter sein, denkt er. Du könntest mein Vater sein, denkt sie. Und denkt es natürlich nicht. Weil sie den alten Bullen schonmal hier gesehen hat. Weil sie weiß, dass er nur ausgibt. Weil die Chefin ihr gesagt hat, dass der Alte nur ausgibt. Dass sie aber trotzdem nett zu ihm sein soll. Nett . Wie nett? Sie weiß, dass er bald verschwindet, jetzt, wo der Abend sich in die Nacht verdunkelt, stört er bloß.
    Er versucht, sich an den Namen der Blume zu erinnern, die da am Rand des Moores wächst. Fünf rote Blütenblätter kommen aus einem Kelch, gelblich, wie eine kleine Vase dieser Kelch. Jetzt erst wird ihm bewusst, dass rings um das Moor, das sie ausgehoben haben, unzählige Blumen blühen und verblühen, dabei ist schon Herbst, aber in der Abgeschiedenheit und der Dämmerung des kleinen Waldstücks vor der Stadt ist die Zeit vielleicht ein wenig hinterher. Denkt er. Ist das eine Heidenelke? Er sieht die Kollegin, deren Namen er nicht kennt, auf der anderen Seite der Moorsenke, wie sie sich bückt und ein paar Blumen pflückt. Er weiß nicht genau, wie lange er schon bei den Körpern hockt, wie viele Minuten oder Stunden, es dämmert bereits, er sieht die Abendsonne zwischen den Zweigen und Blättern der Bäume, wahrscheinlich lassen sie mehr Licht durch im beginnenden Herbst, und deswegen blüht es hier noch. Denkt er. Und wegen des nahrhaften Bodens. »Heidenelken«, hört er die Kollegin von dort drüben rufen. Vielleicht sagt sie es auch nur zu sich selbst. Sein linkes Bein ist eingeschlafen. Es ist das rechte Bein, das dem Mann fehlt. Jemand wollte ihn

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