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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Nordosten, denkt an seinen nächsten Urlaub, fährt durch die nächtliche Stadt, die Nacht beginnt schon sechzehn, siebzehn Uhr im Spätherbst, im Frühwinter, die Facettenaugen einer sterbenden Schwebefliege sehen das Bild des Zimmers in unzähligen Bruchstücken, »Geldgier, natürlich auch oder vor allem Geldgier, oder ein …, nennen wir es mal so …, undifferenziertes Freiheitsbedürfnis, ja, ja, es war so, dass ich dachte, ich müsste mich sexuell engagieren«, Stimmen Stimmen, er erinnert sich an die Stunden, die er im Moor hockte und in die halbmumifizierten Körper der Toten lauschte, in denen er davon träumte, ihnen die Häute der Augen abzuziehen, um einen Blick auf ihre letzten Blicke werfen zu können, Miniaturbilder, Leuchten unterm Elektronenmikroskop, die Vergangenheit durchdringt alles, aber was soll das sein?, wenn er plötzlich irgendwo beziehungsweise irgendwann in diesem Kreis aufwacht, aus dem Schlaf und dem Traum, den sie, sein Dickerchen, in einem plötzlichen Anfall von Gefühligkeit, »im Herzen der Meere« nannte, er ist nicht anfällig für Kitsch, »… mehrere enge und abgelegene Straßen, wie die Zimmerstraße, das Kupfer- und das Sporergässchen für feinere Ansprüche, die Ulrichsgasse für Soldaten und Arbeiter, sind reich an solchen Häusern, wo er vor jedem, sage jedem Hause derselben von Dirnen in phantastischen Kostümen angerufen und zum Eintritt aufgefordert wurde«, er hört seine Bänder ab und denkt über den neuen Fall nach, Leichenteile im Fluss, ein junger Mann ganz oben auf der Liste, Mord im Computerspielerausch ?, Täter und Töter, »Die Ruhe in der Stadt täuscht«, sagt ein V-Mann über die motorisierten Syndikate, welche Ruhe?, denkt er, aber natürlich ist es eine Ruhe, denkt er später, als er am Flughafen vorbeifährt, der in den Nächten wie ein großes UFO auf dem Feld …, aber das hatten wir schon, es ist doch der natürliche Gang der Dinge, denkt er und freut sich auf seinen Gin Tonic bei Madame Gourdan, der Chefin der flatternden Fahne, er hat das Gefühl, er trifft außer ihr und den anderen bei ihr keine normalen Menschen mehr, mit denen er sich unterhalten kann.
    Und als er den kleinen Diamanten aus den eingerissenen Hautschichten der Hand seines einbeinigen Toten holt, der ihn so fest gepresst haben muss im Moment des Sterbens, dass er sich durch die Schichten der Haut tief in sein Fleisch schob, ihn gegen das Licht der Neonröhren hält, fast geblendet wird von den winzigen und wunderschönen Brechungen und Strahlungen, wie die Facettenaugen einer Schwebefliege , weiß er, dass das endlich eine Spur ist. Aber es ist Nacht draußen, und er fährt mit einem Boot aus Mahagoni den Grenzfluss stromabwärts ins Haff.
    Und als sie neben ihm schläft, schnarchend, weil die Arbeit anstrengend ist in jenen Vormittagsstunden und der Sekt und der Kreislauf und das verdammte Geficke miteinander kollidieren, legt er den kleinen Diamanten zwischen ihre riesigen Titten, auf denen noch sein Sperma klebt, »Spritz, mei Gutsder, ja, jaaa, spritz schön, meine Sonne, spritz mich voll, du geiler Hund!«, und beobachtet, während in Sekunden nichts passiert in der Stadt und in dem größer werdenden Kreis, sieht mit angehaltenem Atem, wie der Stein sich bewegt im unruhigen Schlag ihres Herzens.

Ewigkeit zwo
    HALLO, MEINE LIEBEN,
    hallo, hallo, hallo!, und einen schönen guten Abend, eine wunderweiche Nacht wünsche ich allen, die jetzt live dabei sind, bei »Eckis Edelkirsch«! Setzt die Kopfhörer auf, dreht die Boxen leise und schickt eure Frauen ins kalte Ehebett oder dreht die Boxen laut, wenn ihr allein seid. Ecki bringt euch die nächtliche Stadt in die Herzen und Hosen, und wir bringen den Huren unsere Rosen, Applaus, Applaus, dreißig Minuten direkt in die Netze der Kavaliere und Suchenden, Wanderers Nacht-Glied.
    Es gibt Gerüchte, und das sind ganz üble Gerüche, dass ich nicht mehr unter euch bin, nicht mehr weile mit meiner immergeilen Eile, ich bin erschüttert, bis tief ins Mark, meine Lieben, dass der geile Ecki angeblich keine Kirschen mehr testen kann für euch. Für euch, für uns und für sich selbst, ganz selbstverfreilichst! Moment …
Anja P., geboren 1988 in Weißenfels, Realschulabschluss 1994 (mit 2,1), Lehre als Bürokauffrau 2004 bis 2007 in Magdeburg, 2006 und 2007 gelegentlich tätig im Escortservice, Aufenthalte in Berlin, 2009 Umzug nach …, dort gemeldet, ab 2009 Arbeit in einer Wohnung in der G.-Straße, Arbeitszeit Montag bis

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