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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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ungefähr, Gang und gäbe.
    So alt bist du doch noch gar nicht.
    »Unser Ackerboden ist bekanntlich nichts Totes.«
    Auf dem Grund sieht er die sich bewegende Ebene der Gräber, das Sichheben und -senken der Hügel, auf denen sich das endlose Feld der Steine erstreckt. Aber es ist nur das Wasser, das sich bewegt.
    Bevor er aufwacht, sieht er diesen altarähnlichen Grabstein mit der Figur, der Statue. Ein bärtiger, grimmiger, zerfurchter Mann aus Stein oder Bronze, so genau kann er das nicht erkennen, der eine Weltkugel stemmt. Große Flügel, die bis zum Boden reichen, wachsen aus seinem Rücken. Jemand steht vor der Figur, vor der Grabstelle, die wohl für einen bedeutenden Mann errichtet wurde, steht dort, während Blasen aus seinem Mund dringen. Ist er das selbst? Nein. Er kennt den Mann. Der Alte oder der Mann hinter den Spiegeln? Schon früher hat er versucht, diese tempelähnlichen Anlagen genauer zu erkennen. Du sollst diese Stadt, die du nicht kennst, erforschen. Aber immer wieder fuhr er gurgelnd, nach Atem ringend, aus diesem Traum.
    Amalgam , das Flattern und Knattern der Fahne im Wind auf dem Hurenhaus, die Outsiders, die Engel, »Kanacken-Attacken«, sagen sie in den Puffs, Diskos, Hurenhäusern und verteidigen den Markt, die Grenzen bleiben; Kristall , denkt der alte Bulle zuerst, als er den kleinen schimmernden Stein zwischen Daumen und Zeigefinger hält, er ist kalt, weil er in der Kälte lag zusammen mit dem Einbeinigen, fast schien er eingewachsen in die Haut, in die Hand, abgestorbene Schichten, letzte Bilder, vier Schüsse auf den Immobilienmann, den Herrn der Steine, damals, Messerstiche in Brust und Hals der Justizsekretärin, nachdem sie gewürgt und fast erwürgt worden war, blinkende Windräder, Zeppeline über der Stadt, Post aus Berlin, Verstärkung aus Hannover, die Einwohnerzahlen nehmen stetig zu, Leb wohl, Schimanski , nächtliche Fahrten, OK, KO, große Mercedeslimousinen voller Kanacken, die langsam durch die Stadt rollen, als wäre hier die Kurfürstenstraße oder fucking Berlin , Flaneure, die Presse vergisst die Leichen im Moor, der alte Bulle liest die Hurenanzeigen in der »Bild«, werden das mehr oder weniger?, alles on-line ?, die beiden werden eingeäschert, und niemand kommt, er liegt bei seinem Dickerchen und riecht ihren Schweiß und ihren Saft, er trinkt Gin Tonic mit der Chefin und den schönen Augen vor Schichtbeginn, »Ich wollte mich sexuell engagieren«, Eliot Ness sortiert seine Fäden, die plötzlich Stricke werde, Seile, armdicke Schlangen, »… als das überschüssige Wasser von dem Elbe-Urstromtal abgeflossen war, lagerten sich auf dem Grund des übriggebliebenen Sees über Jahrhunderte und Jahrtausende allmählich Reste organischer Substanzen ab«, die Lautsprecheransagen treiben unter den großen stählernen Rundbögen und verhallen, im »Toten Eisenbahner« zeigt das Skatblatt ein Grand Ouvert, weswegen das Lachen immer noch und immer weiter … Jemand könnte es stehlen, der auf der Durchreise ist, Kindheitserinnerungen einer Hure auf der S-Bahn-Fahrt zur Schicht an jenen verlorenen Jungen Thaler, die silbernen Fäden verzweigen sich gemeinsam mit den silberglänzenden Schienen, wer fällt?, und wer sitzt hinter den Spiegeln? Züge fahren ein, und Züge fahren aus, und das Lachen seines Dickerchens kratzt ihm in den Ohren, dieses heisere kratzige Lachen, »Komm, noch ei Gläschen Prickelwasser, mei Gutsder!«, Rotkäppchen, Rotkäppchen, immer nur Rotkäppchen, »Die Sonne geht auf!«, Kapitaldelikte, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Vermisstensachbearbeitung, Bandendelikte (Betäubungsmittel, Glücksspiel, organisierte Kriminalität, Falschgelddelikte), der alte Cop, le Bulle , erinnert sich an seine Zeit auf der Akademie, wie ihn sein Großvater einmal besuchte, kurz bevor er starb, die Hände schwielig, der alte Erdarbeiter, der noch den Boden mit Hilfe von Sprengstoffen lockerte, so wie er es einst gelernt hatte, ein kleines Büchlein über diese fast vergessene Verfahrensweise lag immer auf seinem Schreibtisch in der Bauernstube, neben dem Pfeifenständer und der selbstgeschnitzten Holzschatulle mit den bunten Muscheln, die, wie er immer erzählte, von der Hochzeitsreise waren, Deauville, Frankreich, davon erzählte er bis zum Schluss, weiter ist er nie rumgekommen in der Welt, hatte auch kein großes Interesse daran, rumzukommen in der Welt, der alte Cop, den seine Frau früher »Hauptmann« nannte im Scherz, denkt an das Haff oben im

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