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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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versteckt . Jetzt wissen sie wenigstens, dass sie tot ist. Keine unnötigen Träumereien mehr. Er geht zwischen Reihen der Grabsteine hindurch, auf diesen kleinen Wegen, die ihn wieder zum Hauptweg bringen sollen, zumindest zu einem der Hauptwege, er blickt über Hunderte, Tausende Gräber und Steine hinweg, wie eine Miniaturstadt, denkt er. Bäume dazwischen, Bänke dazwischen, weite und schmale Wege dazwischen, er verliert die Orientierung. Er kann sich nicht erinnern, schon einmal auf diesem riesigen Friedhof gewesen zu sein. Er dreht sich um und erkennt Eliot Ness, der am Rand steht, aber direkt neben der Gruppe der Angehörigen und Offiziellen, und zusieht, wie sie den kleinen Sarg hinablassen. Ihre Mutter wollte nicht, dass sie verbrannt wird. Er überlegt kurz, ob er noch einmal zurückgehen soll. Er hatte ja auch nicht vorgehabt zu verschwinden, bevor sie verschwindet. Er hatte sogar einen kleinen Blumenstrauß mitgebracht, den er dann aber auf ein anderes Grab legte auf seinem Weg, als er die kleine Prozession schon erkennen konnte aus der Ferne. War ein vertrocknetes, verwildertes Grab, das ein paar Blumen nötig hatte, den Namen sah er nur aus den Augenwinkeln.
    Was will Ness hier?, denkt er. Abschied nehmen von den großen Fällen? Weil es keine Lösungen mehr gibt? Weil die Silberfäden bis ganz nach oben führen, wo immer das auch sein mag. Unten. Oben. Eliot Ness redete immer weiter, immer mehr Namen, Daten, Vorgänge und Nummern und Zahlen drangen aus seinem sich pausenlos öffnenden und schließenden Mund zu ihm, legten sich wie ein Netz um ihn, um sie beide, um alles, denn es ging um alles, wie Eliot Ness immer wieder sagte, die Welt, die Kartelle, die Krisen, oh nein, keine Krisen, ein Krieg, seit über zwanzig Jahren. In dem sich alles ineinanderschiebt, die Legierungen der Macht und des Geldes.
    Der alte Bulle denkt an die großen Reden des Eliot Ness, der ihn an der Schulter packte, als er begann, langsam zu verdämmern, zu viel Cognac, zu viel Zeit, der ihn an der Schulter packte, ihm mit verzerrtem Gesicht Akten über Akten zeigte, ihm mal flüsternd und mal brüllend erklärte, wer ihm wann die Ermittlungen erschwert hatte, damals. Oder hat er die ganze Zeit geflüstert? In der nächtlichen Stille des Wintergartens. Die beiden Burgen. Das Rathaus, das die Bürger »die Burg« nennen, und das große Laufhaus, die Burg, das Bordell in der Nähe der Allee der schönen Augen, Autobahnauffahrt, Autobahnabfahrt. Dort läuft es nicht gut, hat er gehört. Die Jahre haben alles abgenutzt. Vergiss die Burgen, vergiss die Provinz, flüstert Eliot Ness. Die Grenzen wurden in der Vergangenheit überschritten. Dem alten Bullen reicht es. Zu viel Theorie. Zu viel Verschwörung. Selbst wenn Ness recht hat mit allem, seine Toten bleiben ohne Töter.
    Er sitzt auf dem Schemel, sieht die Reihen der leeren oder belegten Kühlkästen. Das Licht der Neonröhren fängt an, seinen Augen weh zu tun, und er nimmt die Sonnenbrille aus dem Etui und setzt sie auf. Er weiß nicht genau und denkt auch später nicht darüber nach, warum er dann von dem Schemel aufstand, seinen Mann herauszog aus der Kälte und die Hände des Mannes noch einmal ganz genau untersuchte. Weil doch alles schon getan worden ist. Abdrücke, Faserreste, DNA. Nichts. Kein Verkrallen in den Körper des Täters. Wie auch, bei der Riesenwumme. Die ihm den Brustkorb förmlich zerfetzt hat. Schon ein Schuss wäre tödlich gewesen. Da war wohl jemand mächtig wütend auf ihn. Er muss die Sonnenbrille abnehmen, um wirklich zu begreifen, was er sieht. Muss sie dann wieder aufsetzen, um wirklich zu begreifen, was er sieht.

    Und wieder sinkt er. Sinkt in diese dunkelblaue Tiefe. Schreckt hoch. Herzen der Meere, oder was? Zwei Sonnen über dem Wasser, oder ist das eine der Mond?
    Später denkt er, dass das wahrscheinlich ihr Mondgesicht war, als sie sich über ihn beugte, als er nach Luft rang.
    Später erzählt er ihr von seinem Großvater, der, und das hat er, also sein Großvater, von seinem Vater gelernt, also seinem Urgroßvater, sie lacht, und sie trinken Sekt, der ihm das Herz rasen lässt, trotz der Blocker, die er nimmt, er erzählt ihr von seinem Großvater, der auf seinem Stück Land, nicht weit vor Köln, wenn man auf den Kirchturm der Dorfkirche stieg, konnte man den Dom sehen, der dort, auf seinem Land, den Boden mit Hilfe von Sprengstoffen lockerte. Nein, sagt sie, das glaube ich dir nicht.
    Aber ja, das war früher üblich. Vor hundert Jahren

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