Im Tal der bittersüßen Träume
Mexiko. Paddy hat einen Tiefbrunnen gebohrt und holt das Wasser mit einem Pumpwerk herauf. Da strotzt alles vor Blüte und Saft.«
»Und das Dorf hat nichts davon?«
»Señorita, fangen Sie jetzt bloß nicht an, sozial zu denken«, sagte Dr. Högli mit Bitterkeit. »Nein. Das Dorf und rund neunhundert Indios haben nichts davon. Und es hat seit sieben Monaten nicht mehr geregnet.«
»Sieben Monate?« Sie starrte ihn entsetzt an. »Wovon leben sie denn?«
»Von sich selbst.« Dr. Högli nickte mehrmals. »Sie werden es nicht glauben, Señorita. Sie kommen in eine andere Welt. Es ist unheimlich und unbegreiflich, was ein Mensch alles aushalten kann.«
»Das ganze Dorf hat kein Wasser?«
»Es hat zuviel zum Sterben, nennen wir es so. Hier stirbt man langsam, jeden Tag ein bißchen mehr. Man hat ja so viel Zeit.«
»Und wenn es regnen würde?«
»Dann erkennen Sie Santa Magdalena nicht mehr wieder. Als ich hierher kam, war das Leben nicht besser oder schlechter als in tausend Indiodörfern der Berg- und Wüstenregionen Mexikos. Armut ist hier ja nicht erwähnenswert, man kennt nichts anderes seit Jahrhunderten. Wissen Sie, was Armut ist, Señorita?«
»Sie etwa, Dr. Högli?« fauchte sie zurück. »Kann ich dafür, daß ich einen reichen Vater habe? Gut, Sie leben da unten, weil Sie Arzt sind. Es ist Ihre Aufgabe, Idealist und Humanist zu sein. Der Eid des Hippokrates. Ihre Wohltäterrolle ist freiwillig. Der neue Messias vom Roten Kreuz! Aber wo kommen Sie her?«
»Mein Vater war ein kleiner Beamter der Schweizerischen Bundesbahn. Er saß vierzig Jahre lang in einem Stellwerkhäuschen, machte die Schranken auf und zu, kontrollierte seine Schienenstrecke und putzte die Signallampen. Wir waren sieben Kinder und aßen mit Vorliebe Kartoffeln und Weichkäse.«
»Und trotzdem konnten Sie Arzt werden?«
»Ich habe mir mein Studium mit Nachhilfestunden verdient.« Dr. Högli ließ dem Motor im Leerlauf aufheulen. »Können wir weiter, Señorita?«
»Ja!« Sie warf den Kopf in den Nacken und strich die verstaubten Haare aus dem Gesicht. »Wenn ich den Brief meines Vaters nicht abzugeben hätte, würde ich mit einem Freudengeheul umkehren.«
»Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet, Señorita.«
Sie sah ihm nach, wie er mit seinem Jeep über die Geröllstraße hüpfte und vom Staub eingenebelt wurde. »Idiot!« rief sie, hieb mit der Faust gegen das heiße Blech des Kotflügels und stieg ein. »Hochnäsiger Idiot! Er ist auch noch stolz auf seine Armut!«
Im Tal, an der Weggabelung, wo die Straße ins Seitental zu Paddy abzweigte, hielt Dr. Högli an. Scharf hinter ihm stoppte Evita. Högli winkte nach links.
»Da weiter! Sie können sich nicht verfahren. Die Straße endet im Paradies.«
Evita schob den Kopf durch das offene Wagenfenster.
»Nun fahren Sie schon, Doktor!« schrie sie.
»Ich muß geradeaus!«
»Von mir aus …«
Er hob die Schultern, gab Gas und ratterte davon. Aber schon nach wenigen Metern merkte er, daß Evita nicht zu Paddy abgebogen war, sondern ihm folgte. Das machte ihn plötzlich ungemein fröhlich, obgleich er sich im selben Augenblick den größten Idioten Mexikos nannte.
Über einen Trampelpfad kam Paddys Oberaufseher Antonio Tenabo geritten. Er trabte durch das aufklappende Tor, sprang vor dem Herrenhaus aus dem Sattel seines Mulis und schob den Sombrero in den Nacken. Paddy hielt eine Konferenz mit den Kolonnenführern ab. Gerade hatte er erfahren, daß sich heute fast fünfzig Prozent der Indios krank gemeldet hatten und am Hospital herumlungerten. Die Mescal buttons, diese Peyotl-Scheibchen, die die Welt verzauberten, hatten die Indios zwar gekaut, aber nach einer Stunde Arbeit, spätestens nach drei Stunden, warfen sie die Geräte fort und wandelten wie Mondsüchtige zurück nach Santa Magdalena. Schläge und Peitschenhiebe nahmen sie gelassen hin. Die Drohung, keinen Centavo mehr zu bekommen, erreichte sie nicht mehr. Mit Geld konnte man kein Wasser kaufen, keine Gesundheit, kein längeres Leben. Nicht hier in Santa Magdalena. Nur zwei Menschen gab es noch, die wichtig waren: Padre Riccardo, ihr Arzt, und Pater Felix, der Betreuer ihrer Seele.
Nun kam Tenabo zurück, und so, wie er aussah, mußte er schlechte Nachrichten bringen. Paddy beugte sich über die Veranda.
»Hast du die Hosen voll?« brüllte er. Sein eckiger Kopf glühte. Tenabo blickte zu ihm empor. Viereckschädel, dachte er. Die Indios haben immer die treffendsten Namen. Wie kann ein menschliches Gesicht
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