Im Tal der roten Sonne - Australien-Saga
jedoch nur ungerne verließ, hatte er Carla, nachdem sie geheiratet hatte und an der Ostküste der Südinsel in Christchurch lebte, nicht mehr als zweimal pro Jahr gesehen.
Ihr Blick fiel auf einen gedrungenen, glatzköpfigen Mann - Tom Abernathy, Rolfes Anwalt. Überraschenderweise waren die beiden, obwohl sie ein ungleiches Paar waren, Freunde gewesen, hauptsächlich weil Tom sich für einen Weinkenner hielt. Die beiden hatten sich oft in der Weinkellerei getroffen, um den Wein zu probieren und über die Vorzüge der verschiedenen Jahrgangsweine zu diskutieren. Tom hatte Carla und Angie bereits darüber informiert, dass er Rolfes Testament verlesen würde, sobald sich die Trauergäste nach der traditionellen Tee- und Sandwichzeremonie verabschiedet hatten.
Carla schwankte ein wenig, als der Pastor in monotonem Tonfall die Grabrede hielt. Angie hielt Carlas Hand fest und drückte sie. Die Grabrede war der schlimmste Teil der Beerdigung, weil damit die unwiederbringliche Tatsache verbunden war, dass der geliebte Mensch nicht mehr unter ihnen weilte.
Die arme Carla. Vor etwas mehr als zwei Jahren hatte sie bereits ihren Mann beerdigen müssen. Derek, von Beruf Seemann in der Handelsmarine, war bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen. Sie hatten eine glückliche Ehe geführt, wenn man bedachte, dass er einen Großteil der Zeit nicht zu Hause war. Der Schmerz über seinen Tod hätte sie beinahe zerrissen. Wenn es nicht Sam gegeben hätte... Und jetzt ihr Vater! Da Carlas Mutter in ihrem Geburtsland Italien lebte und von ihrer temperamentvollen Großfamilie nach wie vor vereinnahmt wurde, waren Carla und Sam jetzt ganz alleine. Glücklicherweise hatte ihre Freundin eine Menge Mut. Carla hatte viel Schlimmes überlebt und würde auch dies überleben, dessen war Angie sich sicher. Sie hoffte nur, dass sie ebenfalls irgendwann über den Tod ihres Geliebten hinwegkommen würde. Das würde nicht einfach sein. Aber sie war entschlossen,
Carla mit ihrem ganzen Wissen zu helfen, egal was sie mit dem Weingut anstellen würde. Das war das Mindeste, was sie tun konnte. Sie war es Rolfe und seinem Glauben an ihre Fähigkeiten als Winzerin schuldig.
Während der Pastor weitersprach, betrachteten Angies graue Augen ihre Freundin. Angie war fast fünfzehn Jahre älter als Carla, aber Carla sah noch nicht aus wie siebenundzwanzig - trotz all der Schicksalsschläge, die sie erlitten hatte. Sie hatte rotgoldenes Haar, und ihre Locken bildeten einen hübschen Rahmen für ihr ovales Gesicht, das aufgrund des kantigen Unterkiefers, der ähnlich geformt war wie der von Rolfe, außergewöhnlich wirkte. Angie konnte nicht sagen, dass ihre Freundin in landläufigem Sinne hübsch war, aber sie hatte etwas enorm Apartes und Anziehendes an sich. In ihren dunkelblauen Augen lag eine gewisse Empfindsamkeit, und die Form ihrer Lippen ließ auf ein leidenschaftliches Temperament schließen. Carla war vollbusig und nicht so jungenhaft mager wie Angie. Die Sommersprossen auf Carlas Wangen und ihrer geraden Nase verliehen ihr ein keckes, weniger strenges Aussehen. Angie zog sie regelmäßig damit auf, dass sie nicht gerade ein geeignetes Lehrerinnengesicht habe.
»Es ist bald vorüber«, flüsterte Angie beruhigend in Carlas Ohr. Sie lächelte, als Carla dankbar nickte und schaute dann auf den kleinen rothaarigen Sam hinunter, der mit seinen fünf Jahren nicht so recht wusste, was hier passierte, außer dass er von der Traurigkeit, die überall um ihn herum herrschte, angesteckt wurde. Er sah in seinem Anzug mit der langen Hose sehr erwachsen aus und stand kurz davor, in Tränen auszubrechen. Jedoch bemühte er sich, ein starker Mann zu sein, wie sein Großvater es von ihm erwartet hätte. Daher vergoss er keine Träne.
Wie es für die Südinsel typisch ist, ging der Regen in einen
feinen Nieselregen mit kurzen Unterbrechungen über, als die Beerdigungszeremonie sich dem Ende zuneigte. Danach stiegen alle Anwesenden in ihre Autos und fuhren zur anschließenden Beerdigungsfeier.
»Sind jetzt alle weg?«, fragte Peter Cruzio, Rolfes Angestellter, der gerade die Küche aufräumte, Angie, die mit einem weiteren Tablett schmutziger Teller und Teetassen hereinkam.
»Fast alle. Webster ist noch da. Er möchte unbedingt noch mit Carla reden, aber sie hat ihm zu verstehen gegeben - und wir beide wissen, dass ein einziger Blick von ihr ausreicht -, dass ›ein Gespräch über das Weingut‹ zu diesem Zeitpunkt völlig unangemessen ist. Das wird
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