Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
natürlich«, rief sie und hob die Hand, um ihm das Haar aus dem Gesicht zu streichen. »Aber wir können doch noch hundert Jahre lang tanzen. Es kommt mir einfach so ungerecht vor – ich habe es immer leicht, und Josefa hat es immer schwer.«
»Schluss jetzt mit Josefa!« Um seine Mundwinkel verkroch sich ein Lachen, doch das Blitzen in seinen Augen war echt. »Sie hat es schwer, weil sie es sich schwermacht, und wenn mir heute Abend jemand leidtut, dann nicht sie, sondern mein Freund Miguel. Aber wäre er jetzt hier, so würde er sagen: Heute Nacht kannst du nichts für mich tun, Compañero. Also trink auf mein Wohl einen Becher Wein und tanz mit deinem Armadillo.«
»Ja, du hast recht, das würde er wohl sagen. Er kommt doch bald wieder frei, nicht wahr?«
Sachte löste Tomás sich von ihr und füllte an der Bar zwei Becher mit Wein. »Dafür werden wir kämpfen«, meinte er dann. »Und dafür, dass die Freiheit der Presse gewahrt bleibt, wie unsere Verfassung es uns garantiert.«
»Wir, Tomás? Was hast denn du damit zu tun?«
»Nun, ich weiß, ich bin nur ein kleiner Kunststudent und kein gewichtiger Politiker«, erwiderte er in leicht gekränktem Ton, »aber meine Freunde und die Verfassung meines Landes kann ich trotzdem verteidigen, oder? Auf meine Weise habe auch ich mein Scherflein dazu beizutragen, dass Leuten wie diesem Sanchez Torrija das Handwerk gelegt wird, ehe sie zerstören, wofür unsere Eltern gekämpft haben.«
»Sanchez Torrija, wer ist das überhaupt?«, fragte Anavera. »Jeder redet von ihm und sagt, er wolle meinem Vater ans Leder, aber mehr als vages Gemunkel höre ich von niemandem.«
»Kein Wunder.« Tomás verzog den Mund und reichte ihr einen der Becher. »Wer weiß schon mehr als Gemunkel vom Teufel? Felipe Sanchez Torrija ist einer dieser märchenhaft reichen Großgrundbesitzer, auf deren Vermögen sich Diaz’ Regierung stützt. Das Schlimme ist, dass es ihm nicht genügt, vor Geld zu stinken und auf seinen Plantagen in Yucatán überschuldete Maya zu schinden, sondern dass er obendrein politische Ambitionen hat. Er hat von Diaz ein militärisches Kommando gefordert, ohne je in der Armee gekämpft zu haben, und Diaz hat ihn nach Querétaro versetzt, um seinem Lieblingsfeind einen Hieb zu verpassen. Wenn er deinen Vater schon nicht kaltstellen kann, will er ihm wenigstens einen Bluthund vor die Haustür setzen, der ihn in Schach hält.«
»Macht es dir Angst?«, fragte Anavera.
Tomás schüttelte den Kopf. »Es macht mir eine Wut im Bauch, von der mir übel wird. Und dass Don Felipe für sein Söhnchen das Palais neben unserem gekauft hat, macht es noch schlimmer, weil ich diesen arroganten Parasiten jeden Tag vor Augen habe. Wir vermuten, dass er es ist, der der geheimen Zensurbehörde vorsteht, und dass er Miguel wegen des Artikels angezeigt hat. Wenn ich daran denke, bekomme ich allerdings Angst – vor mir selbst. Einmal habe ich schon geträumt, ich hätte den verdammten Lagartijo erwürgt.«
Anavera stellte den Becher beiseite und umklammerte Tomás’ Gelenke. »Erwürge ihn nicht, versprich mir das. Ich habe keine Ahnung, warum du ihn einen Lagartijo nennst, aber eine kleine Eidechse ist es nicht wert, dass du vor einem Erschießungskommando endest. Und Miguel kommt dadurch auch nicht frei.«
»Versprochen, ich erwürge ihn nicht«, beteuerte Tomás. »Aber ich muss morgen in die Hauptstadt zurück, um zur Stelle zu sein, wenn Miguel mich braucht. Er ist mein Freund, ich bin es ihm schuldig. Deshalb will ich heute Nacht von dir etwas anderes als Palaver über Politik. Etwas, das ich mitnehmen und bei mir tragen kann, wenn ich es nötig habe. Wirst du es mir geben, Armadillo?«
Anavera nickte. Eine seltsame Traurigkeit überfiel sie. Nur Josefa wurde heute erwachsen, aber ihr war zumute, als ginge ihrer aller Jugend mit einem Schlag zu Ende.
»Nimm den Becher«, sagte Tomás. »Sieh mir beim Trinken in die Augen und wisch dir die Lippen nicht ab.«
Sie tat, wie ihr geheißen, und er wischte sich die Lippen auch nicht ab, neigte leicht den Kopf und küsste sie. Er hatte sie oft geküsst, doch noch nie auf den Mund. Der Kuss fühlte sich federweich an und so zärtlich wie nichts zuvor. Er sandte einen Schauder durch ihre Kehle, und er schmeckte nach dem fruchtigen Wein. Auf einmal hörte sie die Musik wieder, die schmeichelnden Bögen der Geigen und die Trompete, die nach ihr zu rufen schien.
»Ich will, dass du mit mir tanzt«, sagte Tomás mit rauher Stimme und
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