Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
meisten Gäste kamen aus der näheren Umgebung. Es waren Nachbarn von den umliegenden Ranchos, Freunde aus dem Dorf und ein paar Eltern von Kindern, die Anaveras Mutter unterrichtete. Denjenigen aber, die von weiter her, vor allem aus den Städten, angereist waren, verschlug das Schauspiel, das die Sonne vollführte, den Atem. Über dem Gipfel, der über die Kaffeebäume und die sich reckenden Agaven hinausragte, begann sie zu sinken und tauchte das Tal in ein rotviolettes Licht von einer Zartheit, die nicht mehr wirklich und irdisch, sondern paradiesisch schien. Alle Gesichter bekamen einen verklärenden Schimmer, einen Zauber, der noch über der Veranda, dem Tanzplatz und den geschmückten Tischen und Stühlen hing, als das Licht schon verflogen war und die Männer der Familie herumgingen, um in den Bäumen Lampions anzuzünden, ehe es völlig dunkel wurde.
Die leisen sich wiegenden Takte der Kapelle erschienen wie ein Echo des entschwindenden Lichts. Anavera sah die offenen Münder und die vor Staunen geweiteten Augen und war wieder einmal nichts als dankbar, an einem solchen Ort geboren zu sein. Hätte ein prophetischer Geist ihr einen Wunsch für die Zukunft gewährt, so hätte sie, ohne zu zögern, gebeten: Lass mich, solange ich lebe, auf El Manzanal bleiben, in unserem weißen Haus mit den grün gestrichenen Türen.
Zwischen die Platten und Schüsseln mit den Speisen streute sie gelbe Blüten der Cempoalxochitl, dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk. Sie hätte zufrieden sein sollen. Das mit Blumen und Kerzen geschmückte Büfett wirkte festlich und einladend, und die Düfte, die sich in der Abendwärme mischten, überwältigten sie. Alles war in Fülle vorhanden, das geröstete Lamm der Barbacoa, die in seinem Rauch gegarte Suppe, Tortillas und Tamales aus goldenem Maismehl, die ihre Tante Xochitl in Stapeln gebacken hatte, Chilischoten in Walnusssauce, mit Epazote gewürzte Bohnen, Salat aus Kaktusblättern, gefüllte Chayotes, dreifarbiger Reis, Buñuelos mit Anis und klebrigem Sirup, kandierte Tamarinde und die köstliche Mole Poblano aus der dunkelsten Schokolade. Ihre Mutter hatte auftragen lassen, was der Rancho zu bieten hatte. Sie wusste, dass etliche ihrer Nachbarn am Nötigsten sparten, weil sie um ihre Ernte fürchten mussten, und umso lieber lud sie sie an ihren reich gedeckten Tisch ein.
Doch so schön die vielfarbige Tafel im Licht der Kerzen auch wirkte und so lockend die Musik herüberdrang, konnte Anavera sich nicht recht daran freuen. Sie wusste, die bunt gewürfelten Speisen aus den Früchten ihres eigenen Landes waren nicht, was Josefa sich vorgestellt hatte. Bauerngerichte. Einfaches Essen, wie es die Nahua des bergigen Hinterlandes seit Jahrhunderten zubereiteten. Eine Schar Schüler ihrer Mutter, die froh waren, sich beim Servieren etwas Geld zu verdienen, füllten aus tönernen Kannen einheimischen Rotwein und Pulque, das schaumige Getränk aus dem Mark der Agave, das den Bauern ihren Alltag erleichterte, in Becher. Es gab keinen Champagner, keine erlesenen Weine aus Europa, und das einzige fremdländische Gericht war der misslungene Hamburger Apfelkuchen ihrer Mutter. Die Musiker, die ihre Geigen und Gitarren, die Trompete und das Akkordeon jetzt mit Verve ins Crescendo führten, spielten eine Weise aus Querétaro, die zum Klatschen, Springen und Johlen einlud, keinen vornehmen Gesellschaftstanz aus den Salons von Paris.
Anavera, die all das liebte, tat das Herz weh um ihre Schwester. Mit Feuereifer hatte die Familie eine Fiesta für das Kind wohlhabender Rancheros bereitet. Josefa aber, die viel zu zart und schön und kultiviert für die rauhen Bräuche des Landes war, träumte von einem Ball für die Tochter des Gouverneurs. Sie hatte schon die Enttäuschung wegen des Vaters zu verkraften, und das, was sie hier erwartete, würde ihrer Stimmung nicht aufhelfen. An der Traufe des Vordachs hing eine gigantische, mit Zuckerzeug gefüllte Piñata. Kinderkram, würde Josefa sagen. Und aus ihrer Sicht hatte sie damit natürlich recht.
Hinzu kam, dass die Heiterkeit der Familie gespielt war. Niemand wollte Josefa ihren Tag verderben, aber unterschwellig brodelte die Sorge um Miguel. Er war der Sohn ihrer Tante Carmen, das älteste der auf dem Rancho geborenen Kinder. Für Anavera, die sechzehn Jahre jünger war, war er eine Art großer Bruder, der sie Reiten und Fischen gelehrt hatte und an dessen Hand sie zum ersten Mal durch einen Tanz gestolpert war. Ihre
Weitere Kostenlose Bücher