Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Puppen für die Feiern der Karwoche geschmückt, als sie ihn in der Calle Tacuba abfing. Sie hatte sich nicht in die Straße getraut, aus Furcht, Martina oder Tomás in die Arme zu laufen, doch die Sehnsucht hatte gesiegt. Kaum sah sie ihn, warf sie sich ihm an die Brust und brach in Tränen aus, für die sie sich schämte. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie in diesen Tagen des Wartens so gut wie nichts gegessen und noch weniger geschlafen hatte.
»Was ist denn los?«, fragte er, befreite sich und wies auf den Herrn, der zwei Schritte hinter ihm stehen geblieben war. »Benimm dich doch.«
»Du hast mir so gefehlt, Liebster. Und ich habe mich so schrecklich um dich gesorgt.«
»Nun, jetzt weißt du ja, dass ich mich bester Gesundheit erfreue«, sagte er, strich sich den Rockärmel sauber und wandte sich an seinen Begleiter. »Ich muss mich entschuldigen, Don Fernando. Gehen Sie schon ins Haus, ich komme gleich nach.«
»Ich wollte dich nicht stören, Liebster.«
»Und warum tust du es dann?«
»Weil du plötzlich fort warst!«, brach es aus ihr heraus. »Von einem Moment zum andern einfach nicht mehr da.« Als sie seinen leicht angewiderten Gesichtsausdruck bemerkte, fügte sie hastig hinzu: »Bitte lass uns nicht streiten, Liebster. Ich weiß, du hattest furchtbar viel zu tun, und ich will ja auch keine Last für dich sein. Sehen wir uns heute Abend? Wir könnten zum Essen ausgehen, oder ich sage Elvira, sie soll uns in der Wohnung etwas richten.«
»Ich esse heute Abend auf einer Gala im Außenministerium.«
»Soll ich mitkommen?«, rief Josefa. Der Mann, der nicht ihr Vater war, würde sich dort nicht hinwagen. Er würde sich nirgendwo mehr hinwagen, und wenn doch, war Jaime da, um sie zu beschützen.
Er hob die rechte Braue, gab Josefa einen kurzen Blick und ließ sie wieder sinken. »Nein«, sagte er. »Jetzt geh nach Hause, tu mir den Gefallen.«
»Aber, Liebster, wann sehe ich dich denn?«
Er überlegte, schien im Geiste Daten zu überfliegen. »Am Karfreitag«, sagte er endlich. »Zur Feier im Jockey Club. Ich hole dich ab.«
»Aber in den Jockey Club dürfen doch nur Herren!«, rief sie.
»Karfreitag ist eine Ausnahme«, versetzte er. »Da kommt, was will.« Er küsste ihr wie einer beliebigen Bekannten die Hand und war verschwunden, ehe sie ihm hinterherzurufen vermochte, dass es bis zum Karfreitag noch sechs Tage waren, die sie auf keinen Fall ohne ihn überleben konnte.
Sie musste sie überleben. Während alles, was in der Hauptstadt Beine hatte, sich den Umzügen zum Palmsonntag und zu jedem Tag der Karwoche anschloss, kauerte Josefa hinter den schwarzen Vorhängen und starrte durch einen Spalt auf das farbenfrohe Spektakel. Ganze römische Armeen marschierten aufstampfend über das Pflaster, die riesigen Puppen, die Jesus und seine Jünger darstellten, wurden Zügen von in Weihrauch gehüllten Priestern und Messdienern vorangetragen, Gesänge füllten die Luft, und immer endete alles in Tanzen und Singen und in Menschen, die sich in die Arme fielen. Trommelwirbel und Flötentöne hallten durch Tage und Nächte, doch in Josefa war eine Stille, die erstarren ließ. War je ein Mensch so alleine wie am Rand eines Festes, zu dem er nicht geladen war?
Am Morgen des Karfreitag rissen donnernde Schüsse sie aus dem unruhigen Schlaf. Josefa stürzte ans Fenster, schob den Vorhang beiseite und sah eine Reihe aneinandergehängter Waggons, die offenbar nicht von Pferden, sondern von zahllosen Menschen durch ihre Straße gezogen und geschoben wurden. Anders als an den Tagen zuvor johlten die Versammelten nicht, sondern bewegten die Wagen, die ein wenig den Waggons der Eisenbahn glichen, schweigend. Auf den Wagendächern waren wiederum lebensgroße Figuren befestigt, die sämtlich Judas darstellten, den Verräter, der den Heiland seinen Häschern ausgeliefert hatte.
Nach wenigen Schritten verhielt der gesamte Zug, und mit einem Knall wie Kanonendonner explodierte der Judas auf dem vordersten Wagen. Mit den Fetzen des zerrissenen Verräters wirbelten die Münzen und Süßigkeiten durch die Luft, mit denen er gefüllt gewesen war. Unbeschreiblicher Jubel brach los, als sich die Massen auf die Gaben stürzten.
Mit dem Judas auf dem zweiten Wagen wiederholte sich das Schauspiel. Den weithin hallenden Explosionen nach wurden überall in der Stadt Judasfiguren in die Luft gesprengt, um wie beim Piñata-Schlagen Geschenke unters Volk zu bringen. Noch sind die Leute nüchtern, dachte Josefa, aber nachher,
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