Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
jedes Vogels und den Schritt jedes Tieres erkannte. Auch das Husten seiner Tochter. Das Husten der Tochter, die er einem anderen gestohlen und als die seine aufgezogen hatte.
Was mit seinem Gesicht geschah, musste sie Tausende von Malen beobachtet haben. Er sah sie, und seine Miene hellte sich auf. Falls man derlei von einem Mann mit so dunkler Haut überhaupt sagen konnte. Jaime hatte ihr erklärt, ihr Vater habe ein so sprechendes Gesicht, weil er einer Rasse entstammte, die der wirklichen, zivilisierten Sprache kaum mächtig war. Sie solle nichts darauf geben. Ein Saaldiener kam und brachte ihr ein frisch gefülltes Glas. Ihr Vater – der Mann, der sich ihr Vater nannte – sah zu, wie sie trank.
Jaime hatte recht, er hatte etwas Tierhaftes an sich, die eigenartige Scheu, mit der er sich aus der Gruppe löste und einen Schritt auf die unterste Stufe setzte, die Lautlosigkeit, mit der er sich bewegte, auch die fast schwarzen, schillernden Augen.
Josefa trank, und der Mann, der nicht ihr Vater war, kam Stufe für Stufe auf sie zu. Halte dich fern, wollte sie ihn beschwören, erspare es uns beiden. Dann aber fiel ihr Jaimes Blick ein, seine Sehnsucht, ein Mensch möge ihn so sehr lieben, dass er ihm den verstiegensten Wunsch erfüllte. Wenn sie ihn jetzt enttäuschte, würde er sich ihr niemals öffnen, sich ihr nie anvertrauen, damit sie ihn trösten konnte. Er durfte sie nicht heiraten, wenn sie die Welt nicht wissen ließ, wer sie in Wahrheit war. Sie richtete sich hoheitsvoll auf, trank Champagner und sah dem Mann, der nicht ihr Vater war, entgegen.
Etliche Stufen unter ihr blieb er stehen. Er sieht elend aus, durchfuhr es sie. »Josefa«, sagte er leise, und das Lächeln wagte sich nur in seine Stimme. »Huitzilli.«
»Sprich in zivilisierter Sprache mit mir«, befahl ihm Josefa. »Was willst du?«
»Dich sehen. Wissen, ob es dir gutgeht.«
»Das geht dich nichts an«, erwiderte Josefa. »Jetzt nicht und nie mehr. Ich habe dir gesagt, ich habe mit dir nichts zu schaffen. Halte dich in Zukunft von mir fern, oder ich werde dafür sorgen, dass man dich dazu zwingt.«
Sag es, beschwor sie ihn stumm. Sag, ich bin doch dein Vater, dann sage ich, nein, du bist es nicht, und dann haben wir es beide hinter uns.
»Das kann ich nicht, Josefa«, entgegnete er. »Ich kann mir Mühe geben, dir so wenig wie möglich lästig zu fallen, aber an dir vorübergehen, ohne dich zu fragen, ob alles in Ordnung ist, das bringe ich nicht fertig.« In seinen Augen stand funkelnde Wärme, und eine Spur des Lächelns erreichte seine Lippen.
Mach dich nicht so angreifbar, wollte sie schreien, liefere dich mir nicht aus, mach dich nicht völlig würdelos. Ihr Glas war leer getrunken. Das Gesumm der Gespräche verstummte. Alle Welt sah ihnen zu.
»Ich liebe dich«, sagte er.
»Dazu hast du kein Recht«, schrie sie, und das Glas glitt ihr aus der Hand. »Du bist nicht mein Vater, du hattest kein Recht, mir meinen Vater zu stehlen. Deinetwegen bleibt mir die Stellung, die mir gebührt, verwehrt, deinetwegen habe ich nie die Erziehung genossen, die meinem Stand entspricht. Für die Welt bin ich irgendein Bauerntrampel, die Tochter eines Barbaren, eines Pferdeknechts. Aber ich bin eine Weiße, eine Europäerin auf beiden Elternseiten. Mein Vater war ein Tiroler Baron, und hättest du ihn mir nicht geraubt, hätte ich kein so elend falsches Leben geführt.«
Es musste genügen. Sie hatte ihre Kraft bis auf den letzten Rest verbraucht. Die Augen hatte sie zugekniffen, weil sie nicht sehen wollte, wohin ihre Schläge ihn trafen. Jetzt spürte sie, wie ihr Tränen durch die fest geschlossenen Wimpern strömten. Warum war er nur nicht da, ihr verlorener Vater, warum konnte er sie nicht ein einziges Mal in die Arme nehmen und ihr sagen, dass er sie liebte? Sie hatte sich vor aller Augen zu ihm bekannt, aber er war unerreichbar. Tot und begraben. Sie würde ein Kind ohne Vater bleiben.
Doch statt seiner war Jaime da. Lebendig und vor aller Augen. Schützend und zärtlich glitten seine Hände über ihren Rücken und hinauf in ihren Nacken, dann spürte sie seinen Atem kitzelnd an ihrem Ohr. »Jetzt bist du erlöst, mein Herzchen«, flüsterte er. »Du hast deine Sache gut gemacht. Applaus, meine kleine Kreatur.« Er lobte sie! Er nannte sie bei Kosenamen und war zufrieden mit ihr. Das war alles wert. Sie brauchte keine Väter. Nur Jaime. »Wollen wir gehen?«
»Ja, Liebster. Ja!«
Die Nacht, die folgte, war die schönste ihres Lebens.
Weitere Kostenlose Bücher