Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
sich vor dem Haus aufzustellen und niemanden hineinzulassen. Den Rest der Männer hatte sie nach Hause geschickt. »Gehen Sie nicht auf die Wache nach Santa María de Cleofás«, beschwor sie sie. »Holen Sie nicht die Rurales. Ich sorge selbst dafür, dass die Guardia in der Stadt verständigt wird.« Die Männer fügten sich dem nur zu gern und zogen sich still zurück.
Als sie nach Hause kam und rasch das erschöpfte Pferd versorgen wollte, lief ihre Mutter ihr entgegen. Sie schwenkte einen Brief und sah so elend aus, als wäre sie es, die gerade einen Toten gefunden hatte. »Anavera, ich halte es nicht mehr aus«, sagte sie. »Ich kann nicht länger tatenlos hier sitzen, während in dieser Hauptstadt Dinge vor sich gehen, die mein Begriffsvermögen übersteigen.«
»Josefa?«, fragte Anavera.
Die Mutter schüttelte den Kopf, und Anavera sah, dass sie geweint hatte. »Martina schreibt, sie hätte sie besucht und sie sei wenigstens gesund. Ansonsten aber ist dieser ganze Brief verrückt.«
»Tomás hat dasselbe erzählt«, sagte Anavera. »Meine Mutter schreibt neuerdings verrückte Briefe, hat er gesagt.«
»Und obendrein verliert auch noch mein behäbiger Vetter Stefan den Kopf und schreibt mir, er müsse mir dringendst etwas mitteilen. Aber außer ein paar Andeutungen rückt er mit der Sprache so wenig heraus wie Martina. Anavera, ich glaube, es ist nicht Josefa, um die ich am meisten Angst haben muss …« Die Mutter schluckte, dann sagte sie heiser: »Es ist Benito.«
Anavera griff nach ihrer Hand. »Was ist geschehen?«
»Wenn ich das wüsste«, sagte die Mutter. »Ich kann mir auf nichts von alledem einen Reim machen, aber eines weiß ich sicher: Mein Mann braucht mich, und ich habe ihn lange genug allein gelassen. Ich werde mit dem nächsten Zug in die Hauptstadt fahren.«
Anavera ließ Aztatl laufen und umarmte sie. »Ich halte es auch nicht mehr aus«, sagte sie. »Ich komme mit dir. Aber der nächste Zug fährt erst nach Ostern, und sofort können wir ohnehin nicht weg.«
Die Mutter stockte und suchte ihren Blick.
»Wir müssen in die Stadt«, sagte Anavera. »Auf die Polizei. Felipe Sanchez Torrija ist gestern Nacht in seinem Haus ermordet worden.«
27
D ie Nacht nach dem Empfang in der amerikanischen Botschaft war die schönste in Josefas Leben gewesen. Sie hatte das oft gedacht, seit Jaime bei ihr war, und jedes Mal war eine noch schönere gekommen. In dieser Nacht aber wusste sie: Etwas, das schöner ist, kann nicht mehr kommen, oder mir zerspringt das Herz.
Sie hatte getan, was er sich von ihr gewünscht hatte. Es war schwer gewesen, sie hatte Champagner wie Wasser trinken müssen und ihn vor Angst kaum im Magen behalten können. Kurz war sie in Versuchung, Jaime zu fragen, ob er nicht verzichten, ihr die Prüfung nicht erlassen könne. Dann aber hatte sie gesehen, wie er sie beobachtete, wie dieser vornehme, vollendet erzogene Mann mit geradezu jungenhafter Gier darauf wartete, dass sie ihm seinen Wunsch erfüllte, und sie hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn zu enttäuschen. Hat dir nie jemand Wünsche erfüllt?, hatte sie gedacht und wäre gern zu ihm gegangen, um ihm vor allen Leuten über die gefurchte Stirn zu streicheln. Er hielt sie für töricht, was kein Wunder war, denn sie hatte sich oft genug töricht benommen. Mit der Zeit aber würde sie ihn auf sanfte Art lehren, dass sie klug genug war, um auf den Grund seines Herzens zu sehen, um seine Schmerzen zu begreifen und darüber zu schweigen.
Sie waren alle da gewesen, die Minister, Botschafter, Científicos, die dicke Señora, der Meringue-Krümel an den Lippen klebten, und ihr Mann, der auf ein hilfloses Opfer nach dem anderen einschwatzte. Nur Dolores de Vivero fehlte. Josefa hatte angenommen, sie würde mit ihrem Vater kommen, aber stattdessen erschien der Vater in Begleitung des Präsidenten. Vom unteren Empfangssaal des Botschaftsgebäudes führte eine breite Marmortreppe, auf der Gäste sich tummelten, zu einer höher gelegenen Plattform. Auf der obersten Stufe stand Josefa, allein, wie Jaime es verlangte, und sah die beiden vor den Fuß der Treppe treten. Sie leerte ihr Glas so hastig, dass sie sich verschluckte und husten musste.
Hätte sie das nicht getan, hätte er sie womöglich nicht bemerkt. So aber reckte er sich über die Traube hinweg, die sich um den Präsidenten gebildet hatte, und entdeckte sie. Als Kinder hatten sie auf Streifzügen durch die Wälder sein erstaunliches Gehör bewundert, das den Ruf
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