Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
einfach nicht stark genug gewesen, um dem Leben standzuhalten. Bettlägerig war sie, seit ihr Mann Toni vor sieben Jahren gestorben war. Ob sie jetzt wirklich auch starb? Therese schob die Tür auf. Das Gaslicht war heruntergedreht. Am Bett der Kranken brannte eine einzelne Kerze. Zenta wandte ihr nicht das Gesicht zu, doch sie flüsterte etwas, das Therese nicht verstand. Sie trat näher zu ihr heran. »Kommt der Priester?«, vernahm sie endlich das Wispern unter schleppenden Atemzügen.
»Der Hausknecht holt ihn.«
»Dann setz dich rasch, Resl. Uns bleibt kaum noch Zeit.« Therese wollte ihr sagen, dass ihr Sohn gestorben war, aber Zenta gebot ihr mit schwacher Hand zu schweigen. »Lass mich sprechen. Mir geht die Kraft aus, und ich muss dies zu Ende bringen.«
»Was?«
»Resl …« Die Worte erstickten unter einem Hustenanfall. Therese griff nach dem Becher und hielt ihn der Schwester an die Lippen, doch das Wasser rann ihr aus den Mundwinkeln. »Ich muss es dir sagen«, krächzte Zenta, sobald der Husten verebbte. »Mein Toni hat es mir gesagt, und ich hab ihm versprochen, dass ich schweig. Aber jetzt kann ich doch nicht weiter schweigen. Wenn ich nicht mehr da bin und wenn auch der Veit nicht mehr da ist – dann wärst du allein auf der Welt.«
Thereses Herz begann seltsam spitz und hoch zu klopfen, ohne dass sie wusste, warum. »Sprich«, trieb sie die Schwester an, obwohl sie sah, wie die Kranke kämpfte.
»Der Valentin …«, begann Zenta und brach ab.
»Sprich!«, rief Therese und sprang auf.
»Der Valentin und der Toni, die waren ja wie Brüder … und der Toni hat’s nicht ertragen, nicht zu wissen, wie der Valentin gestorben ist. Deshalb ist er damals nach Mexiko und hat versucht, es herauszufinden.«
»Herrgott Sakrament, das weiß ich alles!« Therese presste die Hände an die Schläfen, weil ihr zumute war, als würde ihr der Kopf platzen.
»Setz dich, Resl«, flüsterte Zenta und wartete, bis Therese ihr gehorchte. »Was der Toni damals erfahren hat, durfte ich dir nicht sagen, weil der Toni gemeint hat, dass die Menschen da drüben Kampf und Sorge genug hatten und Frieden verdient haben. Und uns täte es nur weh, alles aufzuwühlen.«
Zentas Stimme wurde schwächer. Angst erfasste Therese: Was, wenn die Schwester starb, ehe sie ihr von Veits Tod erzählen konnte? »Komm zum Ende«, fuhr sie sie an. »Was hat der Toni erfahren?«
»Der Valentin«, stieß Zenta heraus. »Der Valentin hat ein Kind in Mexiko.« Dann fiel ihr der Kopf aufs Kissen zurück. Im selben Augenblick stieß der Priester die Tür auf.
Therese erhob sich, trat beiseite und murmelte: »Machen Sie schnell.«
Keine Stunde später war Zenta tot. Sie hatte das Bewusstsein nicht wiedererlangt und nicht erfahren, dass ihr einziges Kind nicht mehr lebte. Aber sie war mit den Segnungen der Kirche gestorben, und Veit würde sie hinter der Himmelspforte empfangen. Würde die Familie dort wirklich wieder vereint sein, die Schwestern, der Toni, Veit – und Valentin? Und was ist mit mir?, durchfuhr es Therese. Sie legte ein Schultertuch um, weil sie plötzlich bemerkte, dass sie fror, und trat aus der Vordertür in den erwachten Tag.
Benommen sah sie sich um. Die Nebel, die in den Baumwipfeln gefangen waren, rissen sich frei, stiegen leuchtend gen Himmel und verflogen. Obwohl die Nacht vorbei war, hielt der Mond sich über der Bergkette und spann Fäden um ihre Gipfel. Das Pfeifen des Windes wurde zum Flüstern, das Therese in die Ohren säuselte: Valentin hat ein Kind. Valentin hat in Mexiko ein Kind …
Hier und da bedeckten noch Reste von Schnee das Land, das ihrer Familie gehörte. Es war ihre Heimat, im Schutz dieser Berge war sie aufgewachsen – wie konnte sie dieses Land dem Gustl überlassen? Valentin hat ein Kind, säuselte der frühlingshafte Wind in ihr Ohr. Therese wandte sich um, als müsste sie jemandem Antwort geben. »Wenn Valentin ein Kind hat, dann gehört ihm der Tschiderer-Hof«, sagte sie. »Wenn es dieses Kind wirklich gibt, dann fahre ich nach Mexiko und hole es nach Hause.«
Erster Teil
Querétaro, Santa María de Cleofás, Rancho El Manzanal
August 1888
»Welch gewaltige, welch prächtige Stadt!
In ihren Straßen und Palästen wimmelt es vor Menschen.
Kopflos eilen sie umher,
Einander stoßend, schlagend und prügelnd.«
MANUEL GUTIÉRREZ NÁJERA
1
D urch den Fensterspalt drang der Lärm eines glücklichen Tages.
Vicente und Enrique lieferten sich auf ihren Pferden ein Rennen, und
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