Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Bemerkenswert zärtlich strich Tomás über Anaveras Wange. »Etwas Schreckliches ist ein bisschen übertrieben, meinst du nicht? Bestimmt ist es nicht mehr als ein kurioser Irrtum, der sich in ein paar Tagen in Luft auflöst.«
»Zum Teufel, komm endlich zur Sache«, brach es aus Josefa heraus. In ihrem Kopf jagte ein Gedanke den anderen. Was konnte geschehen sein, dass der Vater sein so fest gegebenes Versprechen brach? Hatte sie ihm nicht oft genug geschrieben, wie viel ihr an seinem Kommen lag? Was war wieder einmal wichtiger als sie? Wäre es um Anaveras Geburtstag gegangen, hätte irgendein Ereignis auf der Welt ihn aufgehalten?
Anavera löste sich aus Tomás’ Umarmung, trat vor und legte Josefa die Hand auf den Arm. »Du kannst ihm unmöglich böse sein, Jo. Es geht um Miguel.«
Miguel. Sein Patensohn, benannt nach seinem geliebten verstorbenen Bruder. Der Musterschüler, der seine juristischen Examen als Jahresbester abgelegt hatte und mit fünfunddreißig bereits leitender Redakteur von El Siglo war. Der Liebling, der in den Augen ihres Vaters nichts falsch machen konnte, dessen Schwächen übersehen und dessen Stärken über den grünen Klee gelobt wurden. Natürlich ging es um ihn. Über dem Wunderknaben Miguel konnte man getrost vergessen, dass man eine bedeutungslose Tochter hatte, die morgen einundzwanzig wurde.
Josefa spürte einen Klumpen in der Kehle. Sie wusste, wie ungerecht sie war. Miguel konnte schließlich nichts dafür, dass der Vater ihn vergötterte. Er war immer nett zu ihr gewesen, unterstützte sie in ihrem Wunsch, Journalistin zu werden, und hatte ihr sogar angeboten, Artikel, die sie ihm schickte, zu prüfen. Miguel hatte keine Schuld, die Schuld trug allein ihr Vater, der sie nicht wie die anderen liebte, dem jeder Fremde wichtiger war als sie. Tränen raubten ihr die Sicht. Sicher sah sie erbärmlich aus – kein Wunder, dass sie ihrem Vater gleichgültig war. Als Anavera ihr den Arm streichelte, verlor sie die Beherrschung und schlug nach ihrer Hand. »Lasst mich in Ruhe. Ihr wartet doch sowieso nur darauf, dass ihr gehen und für euch allein sein könnt.« Ihre Stimme klang scheußlich – gequetscht und verheult.
Unschlüssig blieb Anavera stehen. Durch Tränenschleier sah Josefa, wie Tomás vortrat und ihre Schwester beim Arm nahm. »Komm, gehen wir, Armadillo. Wenn Jo einen Sündenbock braucht, müssen wir uns nicht freiwillig melden.« Ohne auf Anaveras Proteste zu achten, drängte er sie hinaus auf den Gang.
Ehe er ihr folgte, drehte er sich noch einmal nach Josefa um. »Für die Rolle der verzogenen Göre wirst du allmählich zu alt«, sagte er. »Dein Vater ist untröstlich, weil er morgen nicht bei dir sein kann, aber nicht einmal er ist in der Lage, für sein Prinzesschen die Welt anzuhalten. Miguel ist verhaftet worden. Findest du wirklich, dein Vater sollte ihn im Stich lassen und zu einer Geburtstags-Fiesta fahren?«
2
B ei Sonnenaufgang hatten die Frauen das Erdloch ausgehoben, den Boden der Grube mit Steinen gefüllt und darauf ein Holzfeuer entzündet. Sobald die Holzkohle kräftig glühte, mischten sie mit ihren Schaufeln Kohle und Steine und legten ein Gitter darüber. Auf das Gitter wurde eine Auffangschale aus Ton gestellt, in die die Frauen leuchtend buntes Gemüse schichteten: Tomatillos, Chilischoten, rotviolette Zwiebeln, Kürbisspalten und Süßkartoffeln. Darüber kam ein weiteres Gitter und darauf das Lamm, mit Sträußen von Cilantro gefüllt und in Agavenblätter gewickelt. Anschließend konnte man im würzigen Dampf der Barbacoa sitzen bleiben und sie ihre sieben bis acht Stunden köcheln lassen, bis der rauchige, kräftige Braten und die nahrhafte Suppe fertig waren.
Eine grandiose Köchin war Katharina nie gewesen, aber an Festtagen mit den anderen Frauen bei der Barbacoa zu wachen hatte ihr immer Spaß gemacht. Heute war es eine willkommene Ablenkung. Außerdem kann ich so wenigstens etwas für Josefa tun, fuhr es ihr durch den Kopf, auch wenn ihr klar war, dass die Tochter auf das Essen keinen Wert legen würde.
Ihre Freundin Martina saß mit einem Mörser im Schoß auf einem Klappstuhl und zerstieß mit verbissenem Eifer Pfefferkörner. Für gewöhnlich war das Carmens Aufgabe, die eine wahre Meisterschaft darin entwickelt hatte. Carmen aber hatte ihre Schwiegertochter Abelinda ins Haus bringen müssen, nachdem die junge Frau haltlos in Tränen ausgebrochen war. »Leg sie aufs Bett, lass sie reichlich trinken und die Beine hochlegen«,
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