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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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zurück.
    Gern hätte er zumindest eine Stunde geschlafen, ehe er auf den verfluchten Ball musste, aber die Müdigkeit machte ihn überwach. Aus unerfindlichen Gründen spukte das Gesicht des Dienstmädchens ihm im Kopf herum. Auf der Plaza hatte er sich bemüht, so wenig wie möglich auf sie zu achten, jetzt aber wurde er ihr Bild nicht los. Hellblond war sie gewesen, und so weiße Haut fand man selbst unter Spaniern in Mexiko kaum. Aus ihren riesigen Augen hatte sie ihn angestarrt wie das Ziel ihrer Träume – Augen von einem eigenartigen Grün und einer Art von Unschuld, die beide nicht auf den Zócalo von Mexiko-Stadt passten.
    Da er ohnehin keinen Schlaf fand, stand Jaime auf, zog den schweren Vorhang vor dem französischen Balkon ein Stück beiseite und sah hinaus auf die Palmen, die Eukalyptusbäume und Blütenstauden der Alameda. Er hasste diese Stadt, aber eines musste er ihr lassen, ihr Meer von architektonischen Scheußlichkeiten lag in erstaunlich klarer, geradezu glasiger Luft. Wenn man zum ersten Mal herkam und wenn man so jung war, wie Jaime es nie gewesen war, mochte darin eine Verheißung liegen, die überwältigend war.

    Der Ball fand im großen Saal des Casino Espanol statt, der versuchte einen Prunksaal in Versailles nachzuahmen, aber erwartungsgemäß an diesem Ziel völlig vorbeischoss. Ein Geschäftspartner seines Vaters, ein kahlköpfiger Silberhändler mit fünf unverheirateten Töchtern, hatte darauf bestanden, Jaime an seinen Tisch zu bitten, weshalb ihm, noch ehe der Tanz begann, von fünfstimmigem Geschnatter die Ohren schmerzten. An die Damen waren Fächer in Nationalfarben ausgegeben worden, die als Tanzprogramme fungierten. Während des gesamten Essens wurden die fünf Töchter nicht müde, mit jenen Fächern auf die Tischkanten zu klopfen, um Jaime diskret an ihre noch leeren Programme zu erinnern. Er tat so, als würde er nichts bemerken. Dass all die Leute, die sich zu Mittag die Bäuche vollgeschlagen hatten, jetzt von neuem Berge von Essbarem in sich hineinstopften, steigerte seine Übelkeit.
    »Sie haben sich noch nirgendwo eingetragen, Don Jaime«, bemerkte die älteste Silberhändler-Tochter, als die Musik begann. »Wenn Sie sich nicht beeilen, hat die Dame Ihrer Wahl womöglich ihr Programm schon gefüllt.«
    »Das würde mir das Herz brechen«, versetzte Jaime. Sein triefender Sarkasmus entging der Kreatur, die neuerlich mit ihrem Fächer auf die Tischkante klopfte.
    Eilig ließ er seinen Blick durch den Saal schweifen, auf der Suche nach irgendeiner, mit der der Tanz erträglich sein würde. Schon formierten sich Paare, Ballkleider rauschten und Absätze klickten auf das glatte Parkett. Quer durchs Geschehen flog eine Frau in einer Farbe, die an einem solchen Tag geradezu verboten war. Schwarz. Dolores de Vivero besaß die Präsenz dafür. Dass sie sich um gesellschaftliche Konventionen nicht scherte, hatte er bereits erlebt, dass sie aber so weit ging, verschlug ihm den Atem. Sie steuerte geradewegs auf Benito Alvarez’ Tisch zu, ergriff seine Hand und zog ihn mit sich auf die Tanzfläche. Jaime riss sich zusammen und zwang sich, eine der jüngeren Silberhändler-Töchter um den Tanz zu bitten. Wie selbstverständlich standen Dolores und der Barbar unter den wartenden Paaren. Sie war schlimmer als jede Dirne, doch sie war zweifellos die schönste Frau im Saal.
    Die Musik setzte ein. Zumindest hatte man sich zu einem echten, keinem mexikanischen Walzer durchgerungen. Womöglich hätte Jaime am Tanzen Gefallen gefunden, wenn man es allein hätte tun dürfen, ohne einen Menschen zu berühren, noch dazu einen, der schwitzte, stolperte und in jedem Schritt schwatzte. »Sie tanzen wundervoll, Don Jaime«, sagte die Silberhändler-Tochter, und er hatte Mühe, sich ein »Sie nicht« zu verkneifen.
    Und dann sah er die Blonde. Das Dienstmädchen. Lediglich seinem exzellenten Tanzlehrer hatte er es zu danken, dass er nicht vor Verblüffung aus dem Takt geriet.
    Wäre er ein mitleidiger Mensch gewesen, so hätte sie ihm leidgetan. Falls irgendwer sie in Garderobenfragen beriet, hatte der sich einen bösen Scherz mit ihr erlaubt. Sie trug dasselbe leuchtend rote, tief ausgeschnittene Kleid, mit dem Dolores de Vivero auf der grünen Stunde aufgetaucht war. Was an einer vollblütigen brünetten Schönheit geradezu unwiderstehlich wirkte, sah an der zarten Blondine aus wie ein Kostüm zum Karneval. Sie tanzte mit dem Sohn seiner Nachbarn, einem schlecht erzogenen Flegel, der sich an

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