Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
winkte sie heran. Franzi hielt so weit wie möglich Abstand und las die Wörter vor. Er schüttelte den Kopf, wiederholte alles in der richtigen Aussprache und wies auf sie. Franzi probierte es noch einmal, und wieder verbesserte er sie, bis ihre Wörter beinahe wie seine klangen.
Von dem Tag an hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen Lehrer. Sooft er sich von der Arbeit fortstehlen konnte, kam der junge Matrose in ihr Versteck und übte mit ihr. Nach drei Tagen war sie so weit, dass er sich vorstellen konnte – »Pablo heiß ich« –, und nach einer Woche sagte er: »Du bist gut. Schnell wie ein Jaguar bist du. Du wirst dich überall durchschlagen.« Nach einer weiteren Woche erreichten sie Mexiko.
Kein Gerede von Matti hätte Franzi auf das vorbereiten können, was sie in der Bucht von Veracruz erwartete. Das Erste, was sie – noch vom Schiff aus – sah, war der Berg. Sie war am Fuß von Bergen aufgewachsen, doch der weiße Kegel, der aus dem umliegenden Gebirge herauswuchs, hatte mit den Gipfeln ihrer Heimat nichts zu tun. Er ragte bis in den Himmel und ließ nicht nur ein struppiges Mädchen, sondern die ganze Welt um sich schrumpfen. Vielleicht wohnte Gottvater dort oben, in der Weiße, die ins flimmernde Blau schnitt. Gewiss thronte er auf der Spitze des Gipfels, viel zu weit von der Erde entfernt, um sich um Menschengeschicke zu scheren.
Das Schiff glitt an einer Insel, auf der eine schwarz-gelb gemauerte Festung thronte, vorbei, verlor an Fahrt und verhielt schließlich, während jeglicher Wind erstarb. Franzi spürte, wie sich auf ihrer Haut ein Schweißfilm bildete und wie es gleich darauf feucht an ihr hinuntertroff. Die Hitze traf sie wie ein Hieb ins Genick. Sie schirmte die Augen gegen das blendende Licht ab und sah nach der Stadt, die sich umgeben von Sanddünen und unbebauter Weite hinter dem Saum des Meeres erhob.
Rot und weiß erschien sie ihr, ein Mosaik aus Kuppeln, Dächern, Türmen und Terrassen. Zwischen den Bauwerken wuchsen Bäume, deren Stämme höher als die Häuser ragten. Ganz oben trugen sie eine Krone aus schimmernd grünen Blättern. Franzi starrte die fremde Stadt an, und ihr war zumute, als sinke ihr Herz vor Veracruz auf die Knie. Sie hätte zu dem Gott auf dem weißen Gipfel, der sie sowieso nicht hörte, beten wollen. Ich gehe hier nie wieder weg, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren beharrlich. Nie wieder. Mit der Hitze würde sie zu leben lernen, und eines Tages würde sie hier begraben sein.
Dann kamen die Boote, die die Passagiere an Land holten, und Franzi musste der Gruberin helfen, die dürr wie ein Gerippe geworden war und auf der Strickleiter vor Furcht und Schwäche zitterte. Während sie in der Nussschale von Boot durch die kleinen Wellen schaukelten, fasste sie ihren Plan. Sie war frei. Kurz hatte sie erwogen, sich von Pablo zu verabschieden, aber sie war ihr Leben lang ohne Abschiede ausgekommen. Sobald sie das Land erreichten, würde sie auch die Gruberin ohne Abschied hinter sich lassen. Sie hatte keinen Groschen in der Tasche, doch daran war sie gewöhnt. Sie würde sich durchschlagen. Eine Agentur auftreiben und ihr Leben in der Neuen Welt beginnen, als hätte sie nie ein anderes gehabt.
Die Gelegenheit, das Alte hinter sich zu lassen, ergab sich, sobald sie am Kai von Bord kletterten. Männer in enggeschnittenen Uniformen trieben die Ankömmlinge mit Gewehrläufen zu einem Häuflein zusammen und machten sich daran, ein Gepäckstück nach dem anderen zu kontrollieren. Franzi erkannte ihre Chance blitzschnell. Sie ließ den Überseekoffer der Gruberin fallen, sprang einem der Beamten in den Weg und hielt ihm ihr schlaffes Bündel hin. »No hay«, rief sie ihm stolz in ihrem Spanisch entgegen. Ich habe nichts. In ihrem Rücken spürte sie die fassungslosen Blicke der Mitreisenden.
Das Gesicht des Mannes erschreckte sie. Es war braun wie das eines Affen und geschnitten, wie sie es bei einem Menschen nie gesehen hatte. Zum Ausgleich war der Affenmensch bereit, ihr kümmerliches Gepäck den anderen vorzuziehen. Er warf einen Blick in das Bündel, dann zerrte er Franzi am Arm aus dem Pulk und stieß sie hinaus auf den Kai. Franzi verstand, was die grobe Geste bedeutete: Willkommen in Mexiko. Lerne schwimmen oder geh unter. Sie war entschlossen, zu denen zu gehören, die schwimmen lernten.
Solange sie den Kai entlangging, lag Veracruz wie eine verwunschene Märchenstadt unter ihrer Glocke aus flimmerndem Glas. Beim ersten Schritt auf Mexikos Erde
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