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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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Viele der Männer, die als Offiziere in Kaiser Maximilians Armee gedient hatten, waren längst tot, andere erinnerten sich an keinen Valentin Gruber, und wieder andere wollten von der schmählichen Niederlage nichts mehr wissen. Sie wird aufgeben, fürchtete Franzi. Dann aber kam der Brief von Elisabeth Lechner.
    Ihr Vater sei unter Maximilian Hauptmann gewesen und in der Schlacht von Querétaro gefallen, schrieb die Frau. Oberleutnant Gruber habe zu seinen Freunden gehört, während sie in Chapultepec, in der Nähe des Kaiserpalastes, gewohnt hatten. Franzi fand den Brief auf der Anrichte, nachdem die Gruberin einer Ohnmacht nahe aus dem Salon gestürmt war. Sie hatte sich das Lesen selbst beigebracht und konnte nur einen Teil der Worte entziffern. Aus den Bruchstücken schloss sie, dass der Bruder der Gruberin mit einer Deutsch-Mexikanerin gelebt hatte – »mit einer Verführerin ohne Sitte und Moral, dafür mit nachtschwarzem Haar«. Wenn tatsächlich ein Sohn von ihm existierte, dann dürfte jene Katharina Lutenburg dessen Mutter sein, und es war gut möglich, dass sie noch immer in dem Sommerhaus in Chapultepec wohnte.
    Chapultepec. Franzi übte es Silbe für Silbe. Es war ihr erstes mexikanisches Wort. Die Gruberin schrieb Katharina Lutenburg einen Brief und verkaufte den Trauring ihrer toten Schwester. Dann begann von neuem die quälende Zeit des Wartens, die sich über den gesamten Sommer hinstreckte. Gerichtsvollzieher erschienen und klebten Pfändungsmarken an Möbelstücke, und schließlich zog die Gruberin mit Franzi in eine winzige Wohnung über den Arkaden von Brixen. In schwarze Gedanken vergraben, lief sie in den engen Räumen wie ein gefangenes Tier auf und ab.
    Es wurde Herbst, die Tage dunkler und kälter. Vor Angst um ihren Traum fand Franzi kaum noch Schlaf. Die Antwort von Katharina Lutenburg kam nie, aber eines Abends brach die Gruberin ihr Schweigen. »Ich ertrage es nicht länger«, stieß sie in einem Atemzug heraus. »Valentins Sohn irrt unter Barbaren in der Wildnis umher, und ich sitze hier und tue nichts. Morgen gehe ich ins Büro der Schifffahrtgesellschaft und buche die Passagen. Wir fahren nach Mexiko. Wenn diese Lutenburg glaubt, sie könne mir meinen Neffen vorenthalten, dann hat sie sich in Therese Gruberin getäuscht.«
    Wir fahren nach Mexiko, sang es in Franzis Ohren. Irgendwo in der endlosen Weite zwischen der Hafenstadt Veracruz und dem beschworenen Chapultepec würde sie der Gruberin entwischen, eine Agentur aufsuchen und sich als Braut an einen frischgebackenen Hausherrn verkaufen.

    Wenn Mexiko das Paradies war, dann war die Überfahrt das Fegefeuer. Die Härteprobe. Nach Tag und Nacht auf der Bahn erreichten sie Hamburg, wo sie an Bord gingen. Franzi hatte das Meer nie zuvor gesehen. Als ihr klarwurde, dass es weder einen sichtbaren Anfang noch ein sichtbares Ende besaß, war es bereits zu spät und sie den endlosen Wassermassen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
    Die Schifffahrtsgesellschaft hatte der Gruberin eine weitere alleinreisende Dame vermittelt, mit der sie sich eine Kabine in der zweiten Klasse teilte. Für Franzi genügte ein Schlafplatz im Zwischendeck, ein an die Schiffswand genageltes Brett in einem Verschlag, in dem sich insgesamt sechs solcher Schlafstellen befanden. Franzi hatte schon schlechter geschlafen, eingequetscht zwischen stinkende, röchelnde, rülpsende Leiber, unter Fetzen von Decken, in denen Ungeziefer umherkroch, in erstickender Hitze ebenso wie in einer Kälte, die Herz und Blut gefrieren ließ. Das Geschrei der Kinder, die Maden im Getreide, der Mangel an Wasser, das alles ließ sich ertragen, doch nach drei Tagen wurde sie in dem schwankenden Schiffsleib krank. Sie war immer eine Kämpferin gewesen, erfüllt von trotzigem Lebenswillen. Jetzt aber wünschte sie sich nichts mehr, als zu sterben.
    Sie waren alle krank, Männer wie Frauen, Greise wie Kinder. In dem engen Verschlag spuckten sie sich die Seelen aus den Leibern, wälzten sich auf den Pritschen und hatten keine Kraft, um zum Scheißen nach draußen zu gehen. Seekrankheit sei harmlos, hatte Matti, der Bettlerfürst, behauptet. Zum ersten Mal kam Franzi der Gedanke, dass Matti ein schamloser Lügner war.
    Dürr und struppig wie eine Wölfin war Franzi von Geburt an, doch als die Krankheit sich endlich zurückzog, war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Auf ihre Herrin hatte sie in all den Tagen keinen Gedanken verschwendet, jetzt aber musste sie sich so weit herrichten,

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